Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Moral ist nur eine Frage der Fantasie
Zum Tod des großen amerikanischen Schriftstellers Philip Roth
RAVENSBURG - Er hat ihn also wirklich nicht mehr bekommen. Immer wieder wurde Philip Roth als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Die sich jedes Jahr wiederholenden Prognosen der Buchmacher und Experten waren schon so etwas wie der Running Gag des Kulturbetriebs. Jetzt ist es zu spät. Wie schon sein Kollege und Allzeitkonkurrent, der 2009 verstorbene John Updike, geht er leer aus. Am 22. Mai starb Philip Roth mit 85 in New York an Herzversagen.
Immer wieder erregte dieser Mann die Gemüter. Und immer wieder war der Grund dafür, dass seine Bücher nicht mit literarischen Kriterien beurteilt wurden, sondern mit moralischen. Er selbst war daran nicht so ganz unschuldig und machte gerne ein Spiel daraus, wenn er mit seinem Alter Ego Nathan Zuckerman, das in vielen seiner Romanen auftauchte, ganz bewusst für Verwirrung sorgte.
Immer angeeckt
Als Sohn eines Versicherungsangestellten am 19. März 1933 in Newark, New Jersey, geboren, wuchs er als assimilierter Jude unter assimilierten Juden in eher bescheidenen Verhältnissen auf. Er studierte zunächst Jura – da also bereits die Schuld als Triebkraft – brach das aber ab und schrieb sich in englischer Literatur in Lewisburg und Chicago ein. Schon sein Debüt „Goodbye, Columbus“sorgte 1959 für Aufruhr. Obwohl er dafür den National Book Award bekam, einen der wichtigsten Literaturpreise der USA, hielten ihm konservative jüdische Kritiker Verrat am Glauben vor, weil er auf ironische Weise den jüdischen Mittelstand aufs Korn genommen hatte. Immer wieder wurde Philip Roth von nun an als „Nestbeschmutzer“beschimpft.
Auch 1969 nach dem Roman „Portnoys Beschwerden“, mit dem er den Durchbruch schaffte. Darin gibt es eine Szene, in der der pubertierende jüdische Protagonist Alexander Portnoy onaniert. Nicht alle fanden das witzig. Sogar Antisemitismus wurde Roth vorgehalten. Der setzte sich immer wieder mit diesen Vorwürfen auseinander. Indem er im Essay „Writing About Jews“klarstellte, dass es sich um fiktive Texte handle und man Literatur doch bitte die Freiheit zur „exploration of moral fantasy“(Erkundung der moralischen Fantasie) zubilligen müsse. Auch aber in Romanen wie „Mein Leben als Mann“(1974), „Der Ghostwriter“(1979) oder „Zuckermans Befreiung“(1981), in denen er den fiktiven Schriftsteller Zuckerman einführte und selbstironisch mit seiner Identität spielte, um Leser gezielt in die Irre zu führen. Beim Roman „Operation Shylock“(1993) kokettierte er in Interviews sogar damit, ihn im Auftrag des israelischen Geheimdienstes geschrieben zu haben.
Bitterböse Beschreibungen
Er sei ein amerikanischer Schriftsteller, der zufällig über Juden schreibe und habe „nicht einen einzigen religiösen Knochen in sich“, betonte er gerne. Auch Frauenfeindlichkeit wurde ihm, dessen erste Ehe mit Margaret in einem Rosenkrieg endete, und dessen zweite mit der Schauspielerin Claire Bloom ihn mit Depressionen in die psychiatrische Klinik führte, oft vorgeworfen. Doch Moral war für ihn nur eine Frage der Fantasie. Wer die nicht hatte, war eben selbst schuld. Rund 30 Romane umfasst sein wichtiges literarisches Werk, dazu Dutzende Kurzgeschichten und Essays. Er war der einzige Schriftsteller, dem die Library of America zu Lebzeiten eine eigene Edition widmete. Für „Amerikanisches Idyll“erhielt er 1998 den Pulitzer Preis.
Seinen bedeutendsten Erfolg feierte Philip Roth im Jahr 2000 mit dem Roman „Der menschliche Makel“, der mit Nicole Kidman und Anthony Hopkins in den Hauptrollen auch verfilmt wurde. Eine bitterbösreale Satire, die den Rassismus in den USA ad absurdum führte. Humor und Ernst lagen für ihn nie weit auseinander. „Es sind nur verschiedene Linsen“, sagte er einmal, „stellst du die Linse so ein, siehst du die Realität als Komödie. Wenn du sie andersherum drehst, siehst du sie als Tragödie. Es ist aber immer dieselbe Wirklichkeit.“Als Autor beherrschte er Satire, Ironie und Sarkasmus ebenso wie Trauer und Melancholie. Als er einmal gefragt wurde, ob man unglücklich sein müsse, um zu schreiben, antwortete er, nein, nichts gehe besser, wenn man unglücklich sei. „Um zu schreiben, muss man robust, unabhängig und gesund sein.“
Mit den Romanen des Spätwerks wie „Das sterbende Tier“(2001), „Jedermann“ (2006) oder „Exit Ghost“
(2007) schrieb er, der in den 1980erJahren schon eine erste Herz-OP überstehen musste, zurückgezogen in seinem Landhaus in Connecticut gegen das Alter an, das er als „Massaker“bezeichnete. Der großartige kleine Roman „Nemesis“(2010) sollte sein letztes Buch sein. Zwei Jahre später verkündete er seinen Rückzug als Schriftsteller. Er habe das Beste aus seinen Möglichkeiten gemacht. An seinen Computer, erzählte er in einem seiner letzten Interviews, habe er sich einen Zettel mit dem Satz „Der Kampf mit dem Schreiben ist vorbei“geheftet. „Jeden Morgen schaue ich auf diesen Zettel und das gibt mir Kraft.“Jetzt ist der Kampf für Philip Roth vorbei.