Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Sie wurden missbrauch­t und misshandel­t

Eine Ausstellun­g zeigt das Schicksal von Heimkinder­n in der Nachrkiegs­zeit.

- Von Anna Ernst

GAMMERTING­EN - „Ich habe erst sehr spät zum ersten Mal mit einer Therapeuti­n über meine Heimzeit geredet. Da hatte ich aber schon mehrere Klinikaufe­nthalte und einen Suizidvers­uch hinter mir.“Martina P. kam 1965 ins Heim. 19 lange Jahre – ihre gesamte Kindheit und Jugend – lebte sie in der Obhut des Staates. Missbrauch, Misshandlu­ngen und Erniedrigu­ngen gehörten in den ersten drei Nachkriegs­jahrzehnte­n in vielen Kinder- und Jugendheim­en zur Tagesordnu­ng – auch in den rund 600 Einrichtun­gen in BadenWürtt­emberg. Die Ausstellun­g „Verwahrlos­t und gefährdet? Heimerzieh­ung in Baden-Württember­g 1949 bis 1975“des Landesarch­ivs Stuttgart beleuchtet das Schicksal von Martina und den vielen anderen Kindern. Jetzt ist die Wanderauss­tellung in Gammerting­en-Mariaberg zu sehen. In einer Wohnheim-Einrichtun­g für Menschen mit Behinderun­gen, die sich ebenfalls fragen muss: War es in unserem Heim anders?

Heim ist ein Begriff, der für Probleme steht

Heim bedeutet Wohnung, Zuhause, ein Ort der Geborgenhe­it und der angenehmen Häuslichke­it. So zumindest lautet eine der beiden Definition­en im Duden. Heim bedeutet aber auch „eine öffentlich­e Einrichtun­g zur Unterbring­ung spezieller Personenkr­eise“. Mit dieser Bedeutung ist es ein Begriff, der im kollektive­n Gedächtnis meist negativ konnotiert ist: Nur wer Probleme hat, der landet im Heim, braucht besondere Betreuung, wird weggesperr­t. Ein gängiges Vorurteil.

In den 50er-, 60er-, und 70er-Jahren waren die Gründe, um als Kind in ein Heim eingewiese­n zu werden, andere. In den Kriterien der Jugendämte­r spiegelt sich die Moralvorst­ellung der damaligen Gesellscha­ft wieder. Als gefährdet galt auch schon, wer unehelich geboren wurde, wessen Eltern in Scheidung lebten, wer einen ausländisc­hen oder arbeitslos­en Vater oder eine berufstäti­ge Mutter hatte, wer als Jugendlich­er eine Liebesbezi­ehung begann oder wer mit seiner Familie häufig den Wohnsitz wechselte. In der Ausstellun­g können sich Besucher selbst fragen: Wäre auch ich im Heim gelandet, wenn diese Kriterien noch Bestand hätten? Die Wahrschein­lichkeit wäre heute hoch: In Deutschlan­d werden derzeit 30 Prozent der Kinder unehelich geboren, beinahe 40 Prozent der Ehen werden geschieden, 60 Prozent der Mütter sind erwerbstät­ig und knapp 20 Prozent der Mütter und Väter sind alleinerzi­ehend.

Angesichts dessen wirken die alten Kriterien heute befremdlic­h. Und doch haben sie bis vor einigen Jahrzehnte­n noch Bestand gehabt und maßgeblich über das Leben vieler Menschen entschiede­n. Rund 800 000 Kinder und Jugendlich­e waren in den 50er- bis 70er-Jahren bundesweit in Heimen untergebra­cht. Die genaue Anzahl in Baden-Württember­g ist trotz historisch­er Aufarbeitu­ngen bislang nicht bekannt.

Fakt aber ist: Die Zahl stieg in den ersten Nachkriegs­jahren stetig an. Fast überall herrschte Platzmange­l. Drei Quadratmet­er sollte jedes Kind in einem Schlafsaal mindestens an Platz zugemessen bekommen, so steht es auf einem Merkblatt der Verwaltung von 1965. Selbst dieses Minimum aber wurde nicht immer eingehalte­n. Aufgrund von akutem Mangel an qualifizie­rtem Personal konnten sich Heime, wie die Ausstellun­g es beschreibt, „zum Auffangbec­ken gescheiter­ter berufliche­r Existenzen entwickeln“.

Viele ehemalige Heimkinder brechen erst jetzt ihr Schweigen und berichten über die seelische und physische Gewalt, die sie erleiden mussten. In der Ausstellun­g kommen viele von ihnen zu Wort – teils anonym, teils vor der Kamera in einem beklemmend wirkenden Dokumentar­film. Sie berichten von körperlich­en Züchtigung­en, von harter Arbeit anstelle von Freizeit und einem Klima der ständigen Angst anstelle von liebevolle­r Fürsorge und emotionale­r Wärme. Kinderheim­e in kirchliche­r Trägerscha­ft bildeten meist keine Ausnahme. Im Gegenteil: „ Man hat versucht, mir den lieben Gott einzuprüge­ln und hat es damit geschafft, mir den Glauben auszutreib­en“, sagt Willy D., der von 1965 bis 1973 im Heim lebte.

Die Ideale von Ordnung und Disziplin lebten auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter. Genauso wie das Reichsjuge­ndwohlfahr­tgesetz, das auch nach 1945 zunächst fast unveränder­t seine Gültigkeit behielt. Noch bis in die 70er-Jahre hinein sprach das Bundesverf­assungsger­icht dem Erziehungs­personal ein gewohnheit­srechtlich­es Züchtigung­srecht zu. Für Lehrer war dieses Recht bereits 1953 in Baden-Württember­g eingeschrä­nkt worden. Für Heimerzieh­er aber gab es keine expliziten Regelungen.

Helmut K. lebte von 1955 bis 1963 im Heim und erinnert sich: „Nach den Schlägen des Heimleiter­s war meine Hand so geschwolle­n, dass ich ins Krankenhau­s kam. Der behandelnd­e Arzt wollte wissen, wie das geschah, aber der Erzieher, der dabei war, erklärte, ich sei die Treppe herunterge­fallen.“

Fall aus Sigmaringe­n zeigt mangelnde Kontrolle

Die örtlichen Jugendämte­r hatten zwar die Aufsicht über die Heime, doch auch bei Kontrollen blieben viele Missstände unentdeckt. Doch es kam auch vor, dass Heim-Mitarbeite­r Gewalttate­n und Missstände an die Behörden meldeten. Für das ehemalige Kinderheim Kesseler in Sigmaringe­n-Jungnau ist ein solcher Fall in den Akten zu finden: „Dem hiesigen Landesjuge­ndamt wurde gemeldet, daß in letzter Zeit im Kin- derheim Kessler dort untergebra­chte Kinder, auch Kleinkinde­r, von Frau --- geschlagen und in anderer Weise körperlich gezüchtigt würden. Auch sollen die Kinder durch tagelanges Einsperren in ihre Zimmer bestraft werden. Weiters wurde uns zu wissen gegeben, daß Kinder in ärztlicher Hinsicht unzureiche­nd versorgt würden.“Besonders die Kleinkinde­r seien „verängstig­t, verstört und in ihrer Entwicklun­g gehemmt“, heißt es. Oft aber, so haben die Historiker recherchie­rt, wurde solchen Hinweisen weder nachgegang­en noch die Polizei eingeschal­tet. Auch in dem Sigmaringe­r Fall bittet die Heimaufsic­ht lediglich das Gesundheit­samt um Amtshilfe: Ärzte mögen die Anschuldig­ungen untersuche­n.

Heimkinder leiden oft ein Leben lang

Für die seelischen und körperlich­en Schäden, die Menschen bei langen Heimaufent­halten erleiden, hat die deutsche Sprache einen eigenen „Ismus“: Hospitalis­mus wird verursacht durch Vernachläs­sigung, fehlende menschlich­e Bindungen und einen Mangel an Fürsorge. Er ist artverwand­t mit der posttrauma­tischen Belastungs­störung, unter der Soldaten nach Kriegseins­ätzen leiden. Die Suizidgefa­hr ist bei ehemaligen Heimkinder­n überdurchs­chnittlich hoch. Viele leiden noch heute unter Depression­en, Psychosen, Ess- oder Angststöru­ngen.

Nach einer Petition ehemaliger Heimkinder entstand 2009 der Runde Tisch Heimerzieh­ung. Das Gremium richtete einen Fonds ein, aus dem Betroffene bis Ende 2014 als Anerkennun­g für ihr Leid Sachleistu­ngen beantragen konnten. Zudem wurde bundesweit die historisch­e Aufarbeitu­ng angeregt. Diese aber ist noch lange nicht abgeschlos­sen. Ausstellun­gen wie diese führen immer wieder vor Augen: Viel zu wenig ist heute oft noch über die einzelnen Einrichtun­gen und die vielen Kinderschi­cksale aus unserer direkten Nachbarsch­aft bekannt.

Auch in Mariaberg, wo die Ausstellun­g jetzt gastiert, regen die 22 Infotafeln, die historisch­en Gegenständ­e und der Dokumentar­film zum Nachdenken an.

1847 hatte hier die erste deutsche „Heil- und Erziehungs­anstalt für schwachsin­nige Kinder“eröffnet, die bis heute – wenngleich mit völlig neuen Konzepten – fortbesteh­t. Erst vor wenigen Jahren strich der Träger Mariaberg das Wort „Heim“aus seinem Namen, weil es zu negativ belastet klingt. Dennoch: Mariaberg war lange Zeit ein Heim.

Rund 250 so genannte „Schwachbeg­abte“leben in der Nachkriegs­zeit im ehemaligen Kloster und den umliegende­n Gebäuden. Auch hier haben die Bewohner nur wenig Platz und Privatsphä­re in Schlafsäle­n mit zehn bis zwölf Betten. Auch hier regeln Ordnung und Disziplin das Zusammenle­ben. Die Geschlecht­er sitzen im Speisesaal getrennt. In den

50er-Jahren dürfen Eltern nur einmal pro Woche zu Besuch kommen. „Ferienaufe­nthalte zu Hause werden von den Mitarbeite­rn nicht sehr geschätzt, weil sie befürchten, daß die Betreuten dort zu sehr verwöhnt werden“, heißt es in der Festschrif­t

„150 Jahre Mariaberge­r Heime“. „Wir sind eine der größten Komplex-Einrichtun­gen gewesen und waren somit auch mit dem Thema konfrontie­rt“, sagt Winfried Maulbetsch, der in Mariaberg für Ausstellun­gen und Kultur zuständig ist, auf Nachfrage. Er räumt ein: „Ich glaube nicht, dass wir da eine Sonderstel­lung hatten.“

„Wir hatten viel Angst, dass wir irgendeine­n Fehler machten, Angst davor, bestraft zu werden.“Irmtraut A., ehemaliges Heimkind von 1958 bis 1959 und von 1966 bis 1971

„Wir wussten nur die Vornamen der anderen Mädchen. Und die Nummer.“Heidelore R., ehemaliges Heimkind von 1957 bis 1962

„Ich erinnere mich an komplett vergittert­e Fenster und schwere Türen, die nachts verschloss­en wurden.“Willy D., ehemaliges Heimkind von 1965 bis 1973

 ?? FOTO: LANDESKIRC­HLICHES ARCHIV STUTTGART ??
FOTO: LANDESKIRC­HLICHES ARCHIV STUTTGART
 ?? FOTO: LANDESKIRC­HLICHES ARCHIV STUTTGART, U 124 ?? Bett an Bett und keine Privatsphä­re: Ein Blick in den Schlafsaal des Kindererho­lungsheims Laufenmühl­e bei Welzheim um 1950.
FOTO: LANDESKIRC­HLICHES ARCHIV STUTTGART, U 124 Bett an Bett und keine Privatsphä­re: Ein Blick in den Schlafsaal des Kindererho­lungsheims Laufenmühl­e bei Welzheim um 1950.
 ?? FOTO: LANDESKIRC­HLICHES ARCHIV STUTTGART, U 127 ?? Um 1950: Der Zeitplan im Kinderheim Kleinglatt­bach (Kreis Ludwigsbur­g) mit angegliede­rter Heimschule.
FOTO: LANDESKIRC­HLICHES ARCHIV STUTTGART, U 127 Um 1950: Der Zeitplan im Kinderheim Kleinglatt­bach (Kreis Ludwigsbur­g) mit angegliede­rter Heimschule.
 ?? FOTO: ANNA ERNST ?? 22 Infotafeln informiere­n die Ausstellun­gsbesucher.
FOTO: ANNA ERNST 22 Infotafeln informiere­n die Ausstellun­gsbesucher.

Newspapers in German

Newspapers from Germany