Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Gerechtigkeit und Strafe: Professor Kizilhan begleitet Prozesse gegen IS-Terroristen
UN bitten Psychotherapeuten aus Villingen-Schwenningen um Unterstützung – Kriegsverbrecher stehen 2019 vor Gericht
VILLINGEN-SCHWENNINGEN Wenn Professor Jan Ilhan Kizilhan über den Völkermord des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Nordirak berichtet, schlägt der Psychologe und Psychotherapeut einen betont sachlichen Ton an. Seit Jahren beschäftigt sich Kizilhan, er ist im Hauptberuf Leiter des Studiengangs Soziale Arbeit, Psychische Gesundheit und Sucht an der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen, mit den Verbrechen des IS. Vielleicht kann man nicht anders als sachlich, ruhig, gelassen sprechen, wenn man Verbrechern ins Auge sehen muss? Denn in Kürze wird Kizilhan, der selbst kurdischer Herkunft ist, im Auftrag der Vereinten Nationen bei den ersten Strafprozessen gegen mutmaßliche IS-Terroristen als Gutachter und Begleiter der Nebenkläger tätig.
Die Vorwürfe sind hart: „Es geht um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter, Raub, Mord, Vergewaltigung.“Die IS-Anhänger hätten Zivilisten gezielt attackiert, bei der Flucht auf sie geschossen und sie als lebende Schutzschilde benutzt. Zudem habe es Entführungen gegeben. Hinter den Prozessen stehe außerdem der Wunsch, den Genozid und die Taten des IS zu untersuchen.
Erst kürzlich hatten UN-Ermittler den Völkermord an der Minderheit der Jesiden im Irak angeprangert. Die UN-Ermittlungskommission kritisiert insbesondere, dass trotz der Selbstverpflichtung der Weltgemeinschaft, solche Taten zu verhindern, der Genozid praktisch nicht thematisiert werde. 3000 Angehörige der Volksgruppe der Jesiden werden nach wie vor vermisst. Zudem gehe der IS mit „entsetzlicher Gewalt“immer noch gegen etwa 1500 Frauen und Mädchen vor. Dazu gehörten tägliche Vergewaltigungen, hatte Pramila Patten, Sonderbeauftragte der UN für sexuelle Gewalt, berichtet. Frauen, die fliehen konnten, würden von ihren Familien verstoßen, ergänzt Kizilhan.
Etwa 20 Prozesse gegen ehemalige IS-Kämpfer aus verschiedenen Positionen der Terrormiliz sollen im Irak beginnen. Die Angeklagten sitzen bereits in Untersuchungshaft. Bisher gab es nicht genügend Zeugen, die gegen sie aussagen wollen, denn die Furcht vor Rache ist groß, 2000 bis 3000 ISTerroristen sollen im Irak noch aktiv sein.
Die Berichte von Sklavenhandel und vielfacher Vergewaltigung, von verschleppten oder getöteten Familienangehörigen bringen selbst erfahrene Ermittler an ihre Grenzen. Aber mittlerweile haben die Ermittler, auch unterstützt von der Bundesanwaltschaft, ein präzises Bild vom Vorgehen des IS.
„Im Jahr 2019 werden die Prozesse beginnen“, blickt Jan Ilhan Kizilhan voraus: „Ich werde die Zeugen auf ihre Aussagen vorbereiten, sie betreuen, sie mit den Spielregeln des Prozesses vertraut machen.“Erfahrung bringt der Psychotherapeut mit: Er selbst hat 1400 jesidische Frauen psychologisch untersucht.
Dokumentation und Aufarbeitung
Nach irakischem Recht könnte den Angeklagten im Falle einer Verurteilung die Todesstrafe drohen: „Aber die Vereinten Nationen sind daran nicht interessiert“, sagt der Professor, „es geht neben einer Strafe für die Täter um Gerechtigkeit, um Aufarbeitung, um Dokumentation.“
Nicht nur juristisch soll der Völkermord aufgearbeitet werden. An der Universität in Dohuk, wo auch Psychotherapeuten für die Arbeit in den Flüchtlingscamps ausgebildet werden, fand Anfang Mai unter Federführung Kizilhans die erste „Internationale Konferenz zu Genozid und Massentrauma“statt. „Insgesamt 300 Experten aus 16 Ländern und Überlebende der Genozide in Ruanda, Kambodscha, Nepal, Guatemala und Bosnien haben an dem Kongress teilgenommen, um sich auszutauschen über ihre Erfahrungen, wie sie mit Genozid und Traumata umgehen, und um aus diesen Erfahrungen lernen zu können“, berichtet Kizilhan: „Langfristig soll ein Trauma-Netzwerk aufgebaut werden, um den Menschen vor Ort gezielt zu helfen und Flucht nicht mehr als Lösung zu sehen.“