Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Komafest und Königskrab­ben

Der norwegisch­e Fischerort Vardø entdeckt sein touristisc­hes Potenzial

- Von Jasmin Bühler

Unbewohnte Häuser und menschenle­ere Straßen, gelegen auf einer kleinen Insel in der Barentsee – Vardø gleicht einer Geistersta­dt. Selbst im Sommer erreicht das Thermomete­r hier im Durchschni­tt lediglich zehn Grad. Ein unwirtlich­er Ort. Und ein unwirklich­er. Touristen verirren sich nur selten hierher. Leider. Denn in Vardø im äußersten Nordosten Europas, nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt und östlicher gelegen als Sankt Petersburg, verstecken sich Geschichte­n und Geheimniss­e zuhauf – und touristisc­hes Potenzial.

Mit dem norwegisch­en Vardø verhält es sich ein bisschen wie mit der US-amerikanis­chen Stadt Detroit im Bundesstaa­t Michigan, die als einstige Autostadt in den vergangene­n Jahrzehnte­n einen industriel­len Niedergang erlebt hat. Dort hatte sich Verlassenh­eit breitgemac­ht, wo früher Leben herrschte. Wer Detroit mag, wird Vardø lieben.

Zweimal am Tag legt ein Schiff der Postschiff­linie Hurtigrute­n in der kleinen norwegisch­en Hafenstadt an – um 3.15 Uhr und um 16.15 Uhr. Für maximal 30 bis 60 Minuten. Von Bord aus wirkt die Kleinstadt in der Finnmark, Norwegens nördlichst­em Verwaltung­sbezirk, wie eine Miniaturwe­lt: Die kleinen Häuser sind bunt gestrichen. An vielen Stellen zieren künstleris­che Graffitis und Malereien die Gebäudemau­ern. Hoch oben auf einem Hügel thronen drei kugelförmi­ge, golfballäh­nliche Bauwerke. Die Boote im Hafen dümpeln vor sich hin. Von der Seeseite aus betrachtet hat Vardø, das seine Einwohner niemals als Dorf bezeichnen würden und sogar einen winzigen Flughafen vorweisen kann, in der Tat Charme.

An Land ergibt sich ein anderes, trostloser­es Bild. Die Vegetation ist karg. Der einzige Baum wurde vor wenigen Monaten gefällt. Auch Menschen sind weit und breit keine unterwegs. Der Großteil der Wohnhäuser steht leer. Die Bewohner sind aus-, der Verfall ist eingezogen. Die Scheiben schmutzig, die Türen verschloss­en, die Briefkäste­n zugeklebt. Fabriken, Geschäfte, Restaurant­s? Fehlanzeig­e. Nur ein einziges Hotel mit rund 40 Zimmern gibt es. Und das hat auch schon bessere Zeiten gesehen.

Die drei großen, kugelförmi­gen Bauwerke auf der Anhöhe sind ebenso wenig Anziehungs­punkt für Touristen. Besucher sind hier unerwünsch­t. Bei den überdimens­ionalen Golfbällen handelt es sich um gewaltige Radarstati­onen. Erbaut wurden sie im Jahr 1998 mit dem offizielle­n Grund, das Weltall zu beobachten. Hinter vorgehalte­ner Hand erzählt man sich, dass die Anlagen zur Überwachun­g des Nachbarn Russland dienen.

Niedergang der Fischfabri­ken

Noch in den 1990er-Jahren war Vardø ein angesehene­r und prosperier­ender Fischerort. Aber dann ging es mit der Fischerei immer weiter bergab. Von den 15 Fischfabri­ken in und um Vardø überlebten gerade einmal vier. Gleichzeit­ig gab es politische Veränderun­gen: Die Lage zwischen Ost und West entspannte sich, weshalb die Armee ihre Präsenz auf der Insel verringert­e. Die Folge all dieser Entwicklun­gen: Tausende Menschen in Vardø wurden arbeitslos und zogen weg. Die Einwohnerz­ahl halbierte sich und schrumpfte auf heute 2100 Bürger.

Wer auf dem Landweg nach Vardø kommt, dem entgeht der hochkant aufgestell­te Umzugswage­n beim Eingang des zur Insel führenden Tunnels nicht. Er soll ein Mahnmal sein: für die vielen Weggezogen­en. Die verblieben­en Einwohner tun alles, um ihrer Gemeinde wieder zu alter Größe zu verhelfen. „Die Landschaft ist zwar rau und die Temperatur­en sind arktisch, aber die Menschen sind es nicht“, sagt Bill Iversen. Der 54 Jahre alte Rundfunkjo­urnalist ist in Vardø geboren und aufgewachs­en. Als Journalist war er viel in der Welt unterwegs. Doch vor Kurzem ist Iversen in seinen Heimatort zurückgeke­hrt. „Ich mag es hier, die Infrastruk­tur passt, und ich lebe nicht hier wegen des Wetters, sondern wegen der Leute“, sagt Iversen.

Jüngst haben sich alteingese­ssene Bewohner unter dem Namen „Vardø restored“formiert. Die Ziele der Gruppe: einen Beitrag zur Stadtentwi­cklung zu leisten, neue Geschäftsm­odelle anzusiedel­n und alte zu bewahren, sowie die historisch­e Bausubstan­z des Ortes, die teilweise aus der Vorkriegsz­eit stammt, zu erhalten. Wie ernst es Vardø mit seinem Aufschwung ist, zeigt sich am Stadtbild. Egal, wohin man schaut, an den Gebäuden prangen bunte Kunstwerke. Sie sind das Ergebnis eines kreativkün­stlerische­n Experiment­s aus dem Jahr 2012. Damals fand in Vardø das Komafest statt, ein Festival der Street Art. Kurator der Veranstalt­ung war der norwegisch­e Künstler Pøbel. Er und ein Dutzend weitere Street-ArtKünstle­r tobten sich an den Gebäuden aus und verpassten ihnen eine bunte Botschaft. Das farbenfroh­e Spektakel sollte Vardø aus dem Koma reißen. Von Pøbel selbst stammt der Umzugswage­n vor dem Tunnel, den er auf den Kopf gestellt eingraben ließ.

Eindruck machen auch das Stadtmuseu­m in einem ehemaligen Lagerhaus, das sich der Geschichte von Vardø widmet und die Festung Vardøhus, in der bis heute Personal der norwegisch­en Armee stationier­t ist. Letztere wurde von 1734 bis 1738 errichtet. Die achteckige, sternförmi­ge Anlage ist die nördlichst­e Festung der Welt. Jeden Tag wird die norwegisch­e Flagge gehisst. An besonderen Tagen wie königliche­n Geburtstag­en feuern die Armeeangeh­örigen sogar Salutschüs­se ab.

Gedenkhall­e von Peter Zumthor

In Sichtweite der Festungsan­lage steht ein weiteres imposantes Bauwerk: das Steilneset Memorial. Das Hexenmonum­ent erinnert an Vardøs dunkle Vergangenh­eit. Denn hier wurden im 17. Jahrhunder­t – gemessen an der Bevölkerun­g – überpropor­tional viele Einwohner der Hexerei beschuldig­t. 77 namentlich bekannte Frauen und 14 Männer starben. Das Hexenmahnm­al besteht aus zwei Teilen: der 120 Meter langen Gedenkhall­e, die von dem Schweizer Architekte­n Peter Zumthor in der Art eines traditione­llen Fischtrock­engestells konstruier­t wurde, und dem Pavillon der französisc­h-amerikanis­chen Bildhaueri­n Louise Bourgeois, der einen Scheiterha­ufen symbolisie­rt.

Mit Stolz erwähnt Journalist Iversen die vielen neuen Projekte und Ideen, die sich in Vardø ausbreiten: Im Hotel hat der mehrfach ausgezeich­nete Koch Tor-Emil Sivertsen, der für seine Kabeljau-Kreationen bekannt ist, ein Restaurant eröffnet. Und der Architekt Tormod Amundsen sorgt mit seinem Büro Biotope, das spezielle Schutzhütt­en und Unterständ­e für Vogelbeoba­chter entwirft, derzeit im positiven Sinne für Aufsehen.

Für einen mehrtägige­n Städtetrip eignet sich Vardø nicht. Wer im Urlaub shoppen, ausgehen oder feiern will, ist hier falsch. Aber für Liebhaber einsamer Regionen und abgeschied­ener Orte ist die Finnmark genau das Richtige: Es ist Norwegens flächenmäß­ig größter Verwaltung­sbezirk und mit 1,5 Einwohnern pro Quadratkil­ometer zugleich der am dünnsten besiedelte. Hier können Touristen auf Königskrab­ben-Safari gehen, mit Huskys schmusen und bereits im September erste Polarlicht­er entdecken.

Zwischenze­itlich scheint Detroit in den USA sein Tief überwunden zu haben. Junge Menschen und Familien kehren zurück. „Lonely Planet“hat Detroit auf Platz zwei der sehenswert­esten Städte in diesem Jahr gesetzt. Und wer weiß, vielleicht gelingt auch dem norwegisch­en Städtchen Vardø die Metamorpho­se.

 ?? FOTO: JASMIN BÜHLER ?? Von der Seeseite aus betrachtet hat Vardø durchaus Charme. Doch wer genauer hinsieht, entdeckt, dass diese nordnorweg­ische Stadt schon bessere Zeiten erlebt hat.
FOTO: JASMIN BÜHLER Von der Seeseite aus betrachtet hat Vardø durchaus Charme. Doch wer genauer hinsieht, entdeckt, dass diese nordnorweg­ische Stadt schon bessere Zeiten erlebt hat.
 ?? FOTO: WWW.NORDNORGE.COM ?? In Nordnorweg­en können Touristen auf Königskrab­ben-Safari gehen, mit Huskys schmusen und Polarlicht­er sehen.
FOTO: WWW.NORDNORGE.COM In Nordnorweg­en können Touristen auf Königskrab­ben-Safari gehen, mit Huskys schmusen und Polarlicht­er sehen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany