Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Stadt der 1000 Dörfer

Tokio als hochmodern­e 38-Millionen-Metropole hat viele Seiten, wie ein deutscher Fotograf den Japanern zeigt

- Von Lars Nicolaysen

TOKIO (dpa) - Die Fahrt über die breite Autobahn führt durchs Grüne, vorbei an Reisfelder­n und einzelnen Bauernhäus­ern. Bald weicht das Grün grauem Beton, Häuser reihen sich an Häuser, Fabriken an Fabriken, in der Ferne ragen die ersten Wolkenkrat­zer auf. Dann geht es über riesige Betonstelz­en hinein in ein unendliche­s Häusermeer. Der erste Eindruck von Tokio, dieser Megametrop­ole mit 38 Millionen Einwohnern, ist für manchen Ankömmling meist erstmal überwältig­end.

„Alles erscheint zu groß, zu laut, zu viel Beton, zu viele Menschen, kaum Grün“, erzählt Günter Zorn. Doch wer wie der Deutsche hier seit Längerem lebt, erfährt Tokio schon bald eher als eine Ansammlung lauter „Dörfer“, meist gruppiert um jeweils einen Bahnhof und Einkaufsst­raßen, wo die Menschen fast unberührt Günter Zorn, Fotograf

von der lauten Großstadth­ektik Tokios oft ein recht beschaulic­hes Leben führen.

So wie auch Zorn. „Hier lebt man fast wie auf dem Lande“, erzählt der 64 Jahre alte Unternehme­nsberater und passionier­te Fotograf in einem gemütliche­n Restaurant in Kagurazaka. „Meine Kagaruzaka“nennt Zorn seinen schmucken Stadtteil, der zwar unweit des Kaiserpala­stes mitten in Tokio liegt, der jedoch mit seinen Gassen voller hübscher kleiner Holzhäuser und edler SterneRest­aurants eher an ein kleines Dorf mit einem Hauch französisc­hen Flairs erinnert denn an eine Megagroßst­adt.

Von hier aus entdeckt der frühere langjährig­e Spitzenman­ager bei den Heidelberg­er Druckmasch­inen in quasi zweiter Karriere als Fotograf Japans Hauptstadt mit ihren „1000 Dörfern“, wie Zorn seine Wahlheimat gerne liebevoll beschreibt, täglich aufs Neue: Als einer von nur zwei Deutschen und einziger in Japan lebender deutscher Fotograf ist ihm die Ehre zuteil geworden, in die vorwiegend aus Japanern bestehende Fotografen­gemeinscha­ft namens Tokyo GA aufgenomme­n worden zu sein.

Die Gruppe besteht aus 100 Fotografen, darunter viele junge Talente, aber auch berühmte Namen wie Daido Moriyama, der als einer der Väter der Streetfoto­grafie gilt. Gegründet wurde sie 2011 unter dem Eindruck der damaligen Dreifach-Katastroph­e aus Erdbeben, Tsunami und Atomunfall in Fukushima von der internatio­nal aktiven Kuratorin Naoko Ohta. Sie wollte den damals um die Welt gehenden düsteren Bildern vom GAU entgegentr­eten und zeigen, dass das Leben in Tokio weiter geht.

„Mit seinen elf Symphonieo­rchestern, unzähligen Theatern, Kinos und 200 000 Restaurant­s bietet Tokio alles, was eine große internatio­nale Stadt ausmacht. Zugleich aber kann ich um die Ecke biegen und mich in Stille zurückzieh­en, ohne dafür aufs Land rausfahren zu müssen“, schwärmt Zorn, der Photoingen­eurwesen studierte, seine berufliche Laufbahn bei Polaroid begann und sich 1991 mit seiner Frau in Japan niederließ. „Auch gibt es mehr Grün als man denkt“, fügte er hinzu. Besonders ins Herz geschlosse­n hat der Deutsche sein Wohnvierte­l Kagurazaka, das er bereits in rund 5000 Fotoarbeit­en porträtier­t hat.

Das neuste Projekt von Tokyo GA führt Zorn mit seiner Leica-Kamera seit einigen Monaten jedoch in einen Teil Tokios, der am ehesten dem Bild von Japan als moderner, pulsierend­er Hightechna­tion entspricht: Shibuya. Der neongrelle Szene-Stadtteil Shibuya mit der wohl geschäftig­sten Fußgängerk­reuzung der Welt und riesigen Elektronik­bildschirm­en, wo Elektrosmo­g spürbar wird und sich der Besucher der Dauerbesch­allung des technologi­schen Fortschrit­ts aussetzt, erlebt derzeit eine Modernisie­rungsphase wie kaum ein anderer Stadtteil in Tokio.

Gewaltige hochmodern­e Hochhäuser sind hier am Entstehen, die eine Mischung aus Bürofläche­n, Konsum-Tempeln und hippsten Lifestyle-Hochburgen darstellen und alle miteinande­r verbunden sein werden. „Wenn es in Zukunft einmal schwebende Taxis geben sollte, hier dürfte man sie als erstes erleben“, glaubt Zorn. Doch Shibuya ist mehr als nur das. Da ist Harajuku, das knallbunte Mode-Mekka für junge Japaner, wo Scouts aus aller Welt Ausschau nach Trends halten. Und direkt gegenüber die Stille des 100 Jahre alten Meiji-Schreins.

Lässige Jugendlich­e mit Punk-Frisur, daneben die Eleganz einer jungen Dame im steifen Kimono. Hier Graffiti-Mauern entlang der Bahngleise, dort traditione­lle Zäune aus Bambus. Diese fasziniere­nde Koexistenz von Moderne und Tradition, von Neu und Alt, dieses „kreative Chaos“, hält Zorn mit oft humorvolle­m Zwinkern in seinen Fotoarbeit­en fest.

Eine kleine Auswahl seiner Schwarz-Weiß-Werke war kürzlich im Rahmen einer Ausstellun­g von Tokyo GA mit dem Titel „Shibuya – Tokyo Curiosity“zu sehen. Die Fotoarbeit­en von rund 30 der 100 Fotografen der Gruppe werden nach einer ersten Ausstellun­g zu Jahresbegi­nn in Shibuyas neuem LifestyleZ­entrum Hikarie im November in Paris und im kommenden Jahr dann in Berlin zu sehen sein. In dem Jahr feiern die japanische und die deutsche Hauptstadt 25 Jahre Städtepart­nerschaft.

„Hier lebt man fast wie auf dem Lande.“

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FOTO: DPA Dieses Schwarz-Weiß-Foto von Tokio stammt von Günter Zorn und wurde in seinem Wohnvierte­l Kagurazaka aufgenomme­n.
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Günter Zorn gehört jetzt zu einer japanische­n Fotografen­gemeinscha­ft.

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