Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Moderner Faust packt alle in seinen Bann
Inszenierung des Landestheaters Tübingen begeistert das Publikum in der Stadthalle
SIGMARINGEN - In der Stadthalle Sigmaringen haben die Theaterbesucher am Dienstagabend Goethes Lebenswerk als ein aktuelles Schauspiel erlebt – so modern und spannend inszeniert, als wäre „Faust – Der Tragödie erster Teil“ein Stück aus der Feder eines zeitgenössischen Autors und nicht 200 Jahre alt. Auf Einladung der Gesellschaft für Kunst und Kultur gastierte das Landestheater Tübingen (LTL) in Sigmaringen, und viele Schüler aus Sigmaringen, Aulendorf und sogar aus Wangen besetzten die Sitzreihen der Stadthalle, ist doch Goethes Faust Pflichtlektüre der meisten Gymnasiasten und literarisches Schwerpunktthema des Abiturjahrgangs 2019.
Musste sich die Mitarbeiterin des LTT bei ihren einführenden Worten noch Gehör verschaffen und Ruhe einfordern, so legte sich der Geräuschpegel sehr bald zugunsten einer zweieinhalbstündigen konzentrierten Stille.
Bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts war Faust im allgemeinen Bewusstsein eine positive Vorbildfigur, dessen unermüdliches Streben als Tugend galt. In dieser Inszenierung jedoch zeigte er sich als ein manisch-depressiver menschenscheuer und bindungsloser Mensch mit einem Riesenhunger nach mehr und immer mehr. Da auch Mephisto, der für das Böse steht, Fausts geheime Wünsche verkörpert, als sein Alter Ego agiert, seinen ungeheuren Wissens- und Erlebnishunger nicht restlos befriedigen kann, schließt er mit ihm einen Pakt.
Er verurteilt sich in der Wette mit Mephisto dazu, keinen Augenblick mehr innezuhalten und nachzudenken. Mit diesem Streben nach Bedürfnisbefriedigung, Geld oder Macht ist er im 21. Jahrhundert angekommen und entpuppt sich als Zeitgenosse, als einer von uns. So lautet heute die Gretchenfrage: Gibt es noch irgendetwas, vor dem man verweilen sollte, das man nicht benutzen, unterwerfen und ausbeuten sollte?
Faust sitzt in der Kneipe
Vor beweglichen Bretterwänden und achtlos verteilten Kantinentischen nimmt die Tragödie ihren Lauf. Die Schauspieler stürmen auf die Bühne, eilen treppauf, treppab durch die Zuschauerränge und eröffnen mit dem Prolog das Stück. Ein zutiefst ob seiner eigenen Unzulänglichkeit verzweifelter Faust sitzt in der Kneipe und scheitert, nach minutenlangem Bemühen, den wackligen Tisch zu stabilisieren, ebenfalls an dem Versuch, sich das Leben zu nehmen. Im Osterspaziergang sieht Faust in seiner ganzen Überheblichkeit, mit seinem Assistenten Wagner an den Zuschauerreihen entlang zurück zur Bühne hinunter schlendernd, auf das „bunte Gewimmel“der Menschen herab, die zum Osterspaziergang aufbrechen.
Mephisto betritt die Bühne in dem Augenblick, als Faust nur noch eines weiß: Es muss alles ganz anders werden. Die erste Erlebnisreise führt ihn und sein Alter Ego Mephisto in die Hexenküche. Eine Droge verjüngt den alten Faust um 30 Jahre und die Schauspieler von Faust und Mephisto tauschen die Rollen. Dieser Rollentausch macht deutlich, dass Faust und Mephisto die zwei Seiten eines Menschen sind, die untrennbar zusammengehören.
Fausts Weg führt direkt zu Margarete, einem jungen Ding in kurzem Rock und roten Stöckelschuhen, der ein einziger Augenblick genügt, sich unsterblich in den jungen und attraktiven Faust zu verlieben. In Margarete hat sich so viel Sehnsucht nach einem eigenen, schönen Leben aufgestaut, dass sie sich Faust hingibt, wohl wissend, dass nur die Körper, nicht der Geist, zusammenkommen können.
Ein aufwühlender Theaterabend
Das Drama verdichtet sich und nimmt immer schneller Fahrt auf. Gretchens Mutter stirbt an einem Schlafmittel, das Faust zufälligerweise zur Hand hat, als er mit Gretchen schlafen will. Er lässt die schwangere Margarete sitzen und ersticht ihren Bruder Valentin ohne Not. Allein auf sich gelassen, bringt sie das Kind zur Welt, ertränkt es und wird verhaftet. Im Kerker wartet sie auf ihre Hinrichtung.
Die Zuschauer halten den Atem an, als Faust, um sein Gewissen zu beruhigen, die Zelle betritt und Gretchen retten will. Die Kulissenwände öffnen sich nach allen Seiten und suggerieren Freiheit, aber Margarete verweigert sich, nimmt die Schuld auf sich und gewinnt am Ende der Tragödie menschliche Würde. „Heinrich, mir graut vor dir.“Mit diesem Satz endete ein aufwühlender Theaterabend mit großartigen Schauspielern, einer überaus gelungenen Inszenierung und einem aufmerksamen Publikum, das sich mit lang anhaltendem Applaus bei den Akteuren bedankte.