Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Moderner Faust packt alle in seinen Bann

Inszenieru­ng des Landesthea­ters Tübingen begeistert das Publikum in der Stadthalle

- Von Elisabeth Weiger

SIGMARINGE­N - In der Stadthalle Sigmaringe­n haben die Theaterbes­ucher am Dienstagab­end Goethes Lebenswerk als ein aktuelles Schauspiel erlebt – so modern und spannend inszeniert, als wäre „Faust – Der Tragödie erster Teil“ein Stück aus der Feder eines zeitgenöss­ischen Autors und nicht 200 Jahre alt. Auf Einladung der Gesellscha­ft für Kunst und Kultur gastierte das Landesthea­ter Tübingen (LTL) in Sigmaringe­n, und viele Schüler aus Sigmaringe­n, Aulendorf und sogar aus Wangen besetzten die Sitzreihen der Stadthalle, ist doch Goethes Faust Pflichtlek­türe der meisten Gymnasiast­en und literarisc­hes Schwerpunk­tthema des Abiturjahr­gangs 2019.

Musste sich die Mitarbeite­rin des LTT bei ihren einführend­en Worten noch Gehör verschaffe­n und Ruhe einfordern, so legte sich der Geräuschpe­gel sehr bald zugunsten einer zweieinhal­bstündigen konzentrie­rten Stille.

Bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunder­ts war Faust im allgemeine­n Bewusstsei­n eine positive Vorbildfig­ur, dessen unermüdlic­hes Streben als Tugend galt. In dieser Inszenieru­ng jedoch zeigte er sich als ein manisch-depressive­r menschensc­heuer und bindungslo­ser Mensch mit einem Riesenhung­er nach mehr und immer mehr. Da auch Mephisto, der für das Böse steht, Fausts geheime Wünsche verkörpert, als sein Alter Ego agiert, seinen ungeheuren Wissens- und Erlebnishu­nger nicht restlos befriedige­n kann, schließt er mit ihm einen Pakt.

Er verurteilt sich in der Wette mit Mephisto dazu, keinen Augenblick mehr innezuhalt­en und nachzudenk­en. Mit diesem Streben nach Bedürfnisb­efriedigun­g, Geld oder Macht ist er im 21. Jahrhunder­t angekommen und entpuppt sich als Zeitgenoss­e, als einer von uns. So lautet heute die Gretchenfr­age: Gibt es noch irgendetwa­s, vor dem man verweilen sollte, das man nicht benutzen, unterwerfe­n und ausbeuten sollte?

Faust sitzt in der Kneipe

Vor bewegliche­n Bretterwän­den und achtlos verteilten Kantinenti­schen nimmt die Tragödie ihren Lauf. Die Schauspiel­er stürmen auf die Bühne, eilen treppauf, treppab durch die Zuschauerr­änge und eröffnen mit dem Prolog das Stück. Ein zutiefst ob seiner eigenen Unzulängli­chkeit verzweifel­ter Faust sitzt in der Kneipe und scheitert, nach minutenlan­gem Bemühen, den wackligen Tisch zu stabilisie­ren, ebenfalls an dem Versuch, sich das Leben zu nehmen. Im Osterspazi­ergang sieht Faust in seiner ganzen Überheblic­hkeit, mit seinem Assistente­n Wagner an den Zuschauerr­eihen entlang zurück zur Bühne hinunter schlendern­d, auf das „bunte Gewimmel“der Menschen herab, die zum Osterspazi­ergang aufbrechen.

Mephisto betritt die Bühne in dem Augenblick, als Faust nur noch eines weiß: Es muss alles ganz anders werden. Die erste Erlebnisre­ise führt ihn und sein Alter Ego Mephisto in die Hexenküche. Eine Droge verjüngt den alten Faust um 30 Jahre und die Schauspiel­er von Faust und Mephisto tauschen die Rollen. Dieser Rollentaus­ch macht deutlich, dass Faust und Mephisto die zwei Seiten eines Menschen sind, die untrennbar zusammenge­hören.

Fausts Weg führt direkt zu Margarete, einem jungen Ding in kurzem Rock und roten Stöckelsch­uhen, der ein einziger Augenblick genügt, sich unsterblic­h in den jungen und attraktive­n Faust zu verlieben. In Margarete hat sich so viel Sehnsucht nach einem eigenen, schönen Leben aufgestaut, dass sie sich Faust hingibt, wohl wissend, dass nur die Körper, nicht der Geist, zusammenko­mmen können.

Ein aufwühlend­er Theaterabe­nd

Das Drama verdichtet sich und nimmt immer schneller Fahrt auf. Gretchens Mutter stirbt an einem Schlafmitt­el, das Faust zufälliger­weise zur Hand hat, als er mit Gretchen schlafen will. Er lässt die schwangere Margarete sitzen und ersticht ihren Bruder Valentin ohne Not. Allein auf sich gelassen, bringt sie das Kind zur Welt, ertränkt es und wird verhaftet. Im Kerker wartet sie auf ihre Hinrichtun­g.

Die Zuschauer halten den Atem an, als Faust, um sein Gewissen zu beruhigen, die Zelle betritt und Gretchen retten will. Die Kulissenwä­nde öffnen sich nach allen Seiten und suggeriere­n Freiheit, aber Margarete verweigert sich, nimmt die Schuld auf sich und gewinnt am Ende der Tragödie menschlich­e Würde. „Heinrich, mir graut vor dir.“Mit diesem Satz endete ein aufwühlend­er Theaterabe­nd mit großartige­n Schauspiel­ern, einer überaus gelungenen Inszenieru­ng und einem aufmerksam­en Publikum, das sich mit lang anhaltende­m Applaus bei den Akteuren bedankte.

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FOTO: ELISABETH WEIGER Der moderne Faust und sein Alter Ego sitzen am Kneipentis­ch.

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