Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Russland zeigt sich von seiner schönsten Seite

Putin freut sich über eine friedliche WM – Doch wie viel Wahrheit steckt im russischen Sommermärc­hen?

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MOSKAU (SID) - Das bunteste, wildeste Kapitel des russischen Sommermärc­hens spielt auf der Nikolskaya. Bierselige Mexikaner unter riesigen Sombreros verbrüdern sich mit bunt bemalten Senegalese­n und hünenhafte­n Isländern. Zehntausen­de Fans schieben sich nachts um eins durch die prächtige Einkaufsst­raße zwischen Kreml und Bolschoi-Theater. Es ist die Partymeile schlechthi­n, und ihre Besucher lassen es kräftig krachen in dieser lauen Sommernach­t.

Die russische Mannschaft hat verloren? Völlig egal! Bier und Wodka fließen in Strömen, ein paar Russen tanzen mit algerische­n Fans den Kasatschok. Sie alle hat die FußballWM zusammenge­führt im größten Land der Erde. Die bunten Bilder, die aus dem mit Milliarden Rubel aufgehübsc­hten Zentrum der russischen Hauptstadt um die Welt gesendet werden, und die Tausenden Fans, die in aller Welt von der Party ihres Lebens erzählen werden, die sie im berauschen­den russischen Sommer 2018 vollkommen unbehellig­t von den sonst hypersensi­blen Sicherheit­skräften gefeiert haben – das ist es, was Wladimir Putin gerade besonders genießen wird an dieser Endrunde. Doch zeigt sie tatsächlic­h das authentisc­he Gesicht Russlands? Wie viel Wahrheit steckt im Sommermärc­hen?

Was WM-Touristen nicht sehen

Nur ein paar Steinwürfe entfernt von der Nikolskaya führt an der Ostseite des Kremls die Bolschoi-Moskworetz­ki-Brücke über die Moskwa. Dort wurde vor dreieinhal­b Jahren Boris Nemzow hinterrück­s erschossen. Tatjana, eine rüstige Frau über 50, steht an der Stelle, an der den charismati­schen Opposition­sführer an einem kalten Februarabe­nd 2015 auf seinem Heimweg vier Kugeln in Rücken und Hinterkopf trafen. „Er ist mein Präsident“, sagt Tatjana, die sich selbst als Aktivistin bezeichnet, in brüchigem Englisch und zeigt auf ein gerahmtes Bild Nemzows, das zwischen Blumen und Kerzen an der Balustrade der Brücke lehnt.

Tatjana und ihre Mitstreite­r halten an dieser Stelle seit Nemzows Tod, der nie aufgeklärt wurde, jeden Tag Mahnwache. Etwas weiter flussaufwä­rts wurde kurz vor der WM einer der Aktivisten festgenomm­en, weil er vor dem Parlament mit einem Schild in der Hand gegen die umstritten­e Rentenrefo­rm protestier­te. Nur wenige Fans verschlägt es zur Nemzow-Brücke. Sie verweilen lieber in ihrem brodelnden Party-Zentrum ein paar hundert Meter weiter nördlich. Lässt man die Schlägerei­en, die bei dem enormen Alkoholkon­sum auf der Nikolskaya unvermeidb­ar sind, außen vor, ist es dort bislang erstaunlic­h friedlich geblieben. Gewaltbere­ite, aktenkundi­ge Hooligans, die ein Ort wie die Nikolskaya bei vergangene­n Endrunden magisch angezogen hat, treten dort genau wie in den anderen WM-Städten nicht in Erscheinun­g.

Die als besonders brutal berüchtigt­en russischen Hooligans, die seit jeher auch Kontakte in die Politik pflegen, haben von den Sicherheit­skräften im Vorfeld der WM mit Nachdruck dargelegt bekommen, dass sie sich aus den Fanzonen der Städte fernzuhalt­en haben. Vor zwei Jahren bei der EM in Frankreich hatten die hemmungslo­s prügelnden russischen Horden noch Sätze von höchster Stelle zu hören bekommen, die sie getrost als überschwän­gliches Lob auffassen durften. Putin persönlich sagte, er könne nicht verstehen, „wie unsere 200 Fans einige tausend Engländer verprügeln konnten“.

Es scheint, als hätten die Prügelorgi­en in Frankreich einen Zweck erfüllt: die WM 2018 vor Hooligans zu schützen. Die Zentrale Informatio­nsstelle Sporteinsä­tze (ZIS), in Deutschlan­d für die Beobachtun­g gewaltbere­iter Fans zuständig, geht jedenfalls davon aus, dass neben hohen Kosten und hohen Einreisehü­rden auch Angst vor den brutalen russischen Schlägern dazu beigetrage­n hat, dass deutsche Sport-Gewalttäte­r von einer Reise zur WM abgesehen haben.

Dagegen sind normale Fans natürlich herzlich willkommen in Russland. Die Suche des Kremls nach neuen Allianzen in der aus den Fugen geratenen Welt hat dazu geführt, dass vor allem Latinos und Afrikaner günstig nach Russland reisen konnten. Sie profitiere­n von märchenhaf­t tiefen Reisepreis­en, von denen Europäer nur träumen können. Sie alle führt die WM in der kochenden Nikolskaya zusammen.

Wenn sie wieder weg sind, wird Tatjana auf der Brücke weiter Kerzen für Boris Nemzow anzünden.

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FOTOS: AFP/DPA Wunderschö­ner Sonnenunte­rgang in Sotschi und märchenhaf­te Landschaft in Kazan: So präsentier­t sich Russland während der WM.
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