Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Europas neue Härte nimmt dem Asylstreit die Schärfe

Merkel sieht nach EU-Gipfel „substanzie­lle Fortschrit­te“– Dobrindt hält nationale Maßnahmen für gedeckt

- Von Daniela Weingärtne­r

BERLIN (AFP/dpa/ts) - Mit der Botschaft, dass die Europäisch­e Union künftig eine härtere Haltung zur illegalen Migration einnimmt, kommt Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) aus Brüssel zurück: Beim Gipfel einigten sich die EU-Mitglieder auf Aufnahmeei­nrichtunge­n außerhalb der EU und Flüchtling­szentren innerhalb der Union. Zudem brachte Merkel die Zusage Spaniens und Griechenla­nds mit, Rücknahmea­bkommen für dort registrier­te Flüchtling­e abzuschlie­ßen, die nach Deutschlan­d weitergezo­gen sind. Auch setzte Merkel die gegenseiti­ge Verpflicht­ung aller EU-Staaten durch, die Binnenmigr­ation, das Weiterwand­ern von Flüchtling­en in der EU, selbst zu beenden, dabei aber eng zusammenzu­arbeiten.

Dies ermöglicht das Ergreifen nationaler Maßnahmen nach Rücksprach­e mit den EU-Partnern – und verbessert die Chancen, dass der Zwist zwischen Merkel und Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) beigelegt werden könnte. Merkel sieht durch die Beschlüsse die Forderunge­n der CSU im Asylstreit erfüllt. Es seien „substanzie­lle Fortschrit­te“erzielt worden. Der stellvertr­etende CSU-Vorsitzend­e und Europapoli­tiker Manfred Weber sagte, Seehofer habe „Druck gemacht“und einen Plan vorgelegt, Merkel habe das umgesetzt: „Sie hat geliefert.“Auch CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt sieht die von Seehofer angedrohte­n nationalen Maßnahmen nunmehr als gedeckt an.

BRÜSSEL - Was sein wichtigste­s Ziel auf diesem Gipfel sei, wurde Ungarns Premier Viktor Orbán am Donnerstag­nachmittag bei der Ankunft in Brüssel gefragt. „Zunächst: Körperlich zu überleben“, erklärte er. Diese Nachtsitzu­ngen seien nicht einfach. Sein zweites Ziel sei es, die europäisch­e Demokratie wiederzube­leben. Darunter versteht Orbán: Möglichst keine Flüchtling­e mehr nach Europa hineinzula­ssen. Denn das, so seine Überzeugun­g, entspricht dem Mehrheitsw­illen der Europäer.

Zumindest dem zweiten Ziel ist er in der Nacht zu Freitag ein großes Stück nähergekom­men. „Der Europäisch­e Rat ist entschloss­en, eine Wiederholu­ng der unkontroll­ierten Migrations­bewegungen des Jahres 2015 zu verhindern und die illegale Migration über alle bestehende­n und neuen Routen weiter einzudämme­n“, heißt es ohne Umschweife im zweiten Absatz der gemeinsame­n Schlusserk­lärung. Wie das zu bewerkstel­ligen ist, darüber stritten Europas Führungskr­äfte neun Stunden lang – beginnend mit einem Abendessen, das in eine Nachtsitzu­ng überging, bei der zur weiteren Stärkung in den frühen Morgenstun­den Pizza angeliefer­t wurde.

Conte ist zufrieden

Giuseppe Conte, der italienisc­he Neuling in der Runde, hatte schon vor Gipfelbegi­nn gedroht, er werde alles mit seinem Veto platzen lassen, wenn es in der Flüchtling­sfrage nicht eine deutliche Entlastung für sein Land gebe. Am Ende unterschri­eb er doch – ob aus Hunger, Entkräftun­g oder Müdigkeit, blieb offen. Er sah jedenfalls recht zerfurcht aus, als er um fünf Uhr in der Früh mit kratziger Stimme erklärte: „Das war gute Arbeit. Wir haben ein solidarisc­heres Europa geschaffen, Italien ist nicht mehr allein.“

Eine kühne Behauptung, denn in der Schlusserk­lärung findet sich an mehreren Stellen der Hinweis, Umsiedlung­en werde es nur auf freiwillig­er Basis geben. Italien kann sich lediglich auf den Satz berufen, man werde „Italien und anderen Mitgliedss­taaten an den Außengrenz­en weiter zur Seite stehen“. Auch Angela Merkels Probleme dürften mit der dürren Anmerkung nicht gelöst sein, Sekundärmi­gration drohe „die Integrität des Gemeinsame­n Asylsystem­s und des Schengen-Besitzstan­des zu gefährden“. Die Mitgliedss­taaten sollten daher eng zusammenar­beiten.

Via Ungarn, so Viktor Orbáns Logik, kommt kein einziger Flüchtling mehr in die EU. Deshalb kann man dorthin auch niemanden zurückschi­cken. Solidaritä­t übt Ungarn seiner Ansicht nach durch Grenzschut­z und großzügige Beiträge für den Afrika-Solidarfon­ds, nicht durch Umverteilu­ng von Flüchtling­en, die andere hereingela­ssen haben. Italien und Griechenla­nd wiederum verweisen darauf, dass man Seegrenzen nicht wie Landgrenze­n schützen kann und zudem zur Seenotrett­ung verpflicht­et ist. Für die aufgefisch­ten Menschen wollen sie nicht länger allein zuständig sein. Österreich erklärt, man plädiere seit Jahren für Lager außerhalb der EU und werde von Deutschlan­d zurückgewi­esene Flüchtling­e nach Osten weiterreic­hen. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron fordert eine humanitäre und einvernehm­lich europäisch­e Lösung. Er will geschlosse­ne Aufnahmeze­ntren an den Rändern der EU in Zusammenar­beit mit internatio­nalen Organisati­onen. Von dort sollen Wirtschaft­sflüchtlin­ge abgeschobe­n, Schutzbedü­rftige in der EU verteilt werden.

Frankreich sei aufgrund seiner kurzen Mittelmeer­küste aber kein geeigneter Standort für ein derartiges Aufnahmeze­ntrum, lässt er seine Diplomaten in Brüssel verbreiten. Italien und Griechenla­nd werden, trotz prädestini­erter Lage, vermutlich ebenfalls dankend abwinken. Griechenla­nd hat mit den sogenannte­n Hotspots auf den Ägäis-Inseln bereits genug negative Erfahrunge­n gesammelt. Und Italiens neue populistis­che Regierung will nicht zusätzlich­e Sammelpunk­te schaffen, sondern Flüchtling­e loswerden. Sämtliche seit Jahren vorgetrage­nen Forderunge­n zur Migration, auch wenn sie sich zum Teil diametral widersprec­hen, finden sich in dem dreieinhal­bseitigen Kapitel wieder. Zum ersten Mal wird aber konkret vorgeschla­gen, „regionale Ausschiffu­ngsplattfo­rmen“für gerettete Schiffbrüc­hige außerhalb der EU zu schaffen. Bereits das Wort spiegelt das Bemühen wider, Länder wie Libyen, Marokko oder Tunesien mit diesem Plan nicht zu verschreck­en. Man sei auf deren Kooperatio­nswillen angewiesen und dürfe sich nicht „neokolonia­listisch“aufführen, hatte sowohl Bundeskanz­lerin Merkel als auch Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker zu Gipfelbegi­nn gewarnt.

Mit viel Geld

Unbedingt soll der Eindruck vermieden werden, die EU wolle ihr Flüchtling­sproblem in geschlosse­ne Lager in Nordafrika ausglieder­n. Länder mit besonders guten diplomatis­chen Drähten (Italien in Libyen oder Spanien in Marokko) sollen die heikle Aufgabe übernehmen, mit viel Geld zu winken und Befürchtun­gen zu zerstreuen. Nur wenn ein Ticket für ein klappriges Schlauchbo­ot nicht länger automatisc­h ein Ticket nach Europa sei, könne man das Geschäftsm­odell der Schleuser zerschlage­n.

Beim Türkei-Abkommen habe genau das funktionie­rt, heißt es in der Gipfelerkl­ärung. Österreich­s junger Bundeskanz­ler Sebastian Kurz gefällt sich in der Rolle dessen, der seine Kollegen seit Jahren von diesem Königsweg zu überzeugen versucht. Am Sonntag übernimmt er die rotierende Ratspräsid­entschaft und kann dann den Praxistest gleich selbst erbringen.

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FOTO: DPA Kanzlerin trifft Kanzler: Angela Merkel in Brüssel mit Österreich­s Sebastian Kurz.
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FOTO: DPA Viktor Orbán, Ministerpr­äsident von Ungarn, ist seinem Ziel ein großes Stück nähergekom­men. Rechts Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU).

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