Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Fußball ist wie Kino
Der Sport erzählt genauso Geschichten von Siegern und gefallenen Helden
Nun sind sie also draußen. Ausgeschieden – ein verräterischer Ausdruck, über den Sigmund Freud bestimmt eine Menge zu sagen gehabt hätte. Und eine ganze Nation ist in Aufruhr, weil eine Fußballmannschaft mal früher als erwartet verloren hat, verdient im Übrigen. „Das Unvorstellbare ist passiert“, sprach nach Luft schnappend ZDF-Kommentator Bela Rethy. Von einer Blamage ist die Rede, der „Schande von Kasan“und es werden skurrile – aber unterhaltsame – Parallelen gezogen zwischen dem Bundestrainer und der Kanzlerin, die beide seit ziemlich genau der gleichen Zeit in ihren Ämtern sind, und jetzt gleichzeitig die schwersten Krisen ihrer Amtszeit erleben.
Dramatik pur
Wer sich für Kunst und Geschichte interessiert, den kann das nicht wundern. Fußball hat eben viel zu tun mit dem sozialen und kulturellen Unbewussten, dem gesellschaftlichen Imaginären. Er lädt ein zur Identifikation, hat ein ungemeines dramatisches Potenzial, und zugleich epische Breite. Zugleich ist Fußball, wie jede gute Kunst, ein Spiegel und Ausdruck der jeweiligen Gegenwart, der diese wie in einem Brennglas ziemlich übersichtlich bündelt und zusammenfasst. Vielleicht haben die unerklärliche Lähmung und Gehemmtheit, die oft beklagte fehlende Kommunikation und Ausdruckshemmung und der Mangel an Hierarchie und Struktur ja doch etwas mit dem augenblicklichen Allgemeinzustand unseres Landes zu tun?
Ja, es stimmt: Fußball ist nur ein Spiel. Aber ist es deswegen unbedeutend? Alles Menschliche verrät etwas über uns, und gerade im vermeintlich zweckfreien Tun wird sichtbar, wer wir tatsächlich sind. Schließlich war es Friedrich Schiller, der sagte, der Mensch sei „nur da ganz Mensch wo er spielt“. Das steht in den „Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen“-– mit gutem Grund, denn mit Ästhetik hat der Sport, der Fußball eine Menge zu tun.
Ein Milliardengeschäft
Es stimmt aber auch: Fußball ist natürlich nicht nur ein Spiel, sondern ein Milliardengeschäft – für Spieler, Trainer und Vereine, aber auch für Medienkonzerne, Sponsoren, Vermarkter, für alle die sich dranhängen. Somit ist Fußball auch ein ziemlich unsympathischer Betrieb, denn er enthält alle Hässlichkeiten des globalen Kapitalismus, der schon längst keine soziale Marktwirtschaft mehr ist: Kaum volljährige Jungs werden für zweistellige Millionenbeträge verschachert, es gibt korrupte Funktionäre, Wettmafia, Lug, Betrug, Eitelkeiten und alle anderen Todsünden. Die Politik missbraucht Fußball, wie jede andere Sportart, wo sie kann. Da bietet die WM in Putins Russland reichlich Anschauungsmaterial und zugleich ein bisschen zu einfache Sündenböcke.
Denn Stadien, die von modernen Sklaven gebaut, auf dubiose Weise zum Millionengrab werden, an dem Oligarchen sich eine goldene Nase verdienen, gibt es nicht nur in Russland oder Katar, genauso wenig wie Politiker, die sich im Strahlen der Sportstars sonnen, wenn sie Erfolg haben. Als Deutschland 2014 Weltmeister wurde, war auch die Kanzlerin gern in der Kabine.
Schattenseiten des Spektakels
Aber dies ist eben nicht alles. So wie seit dem alten Rom Kunst und Spiele hässliche Verhältnisse verdecken, geschieht dies auch heute – und Kunst ist Fußball auch.
Denn selbst in solchen Erzählungen über die Schattenseiten des Fußballspektakels, über politische Propaganda, über Doping und Korruption, erweist sich der Fußball als ein Geschichtenerzeuger und Wirklichkeitsgenerator ersten Ranges. Das ist auch ein moralischer Akt: Gar nicht so wenige Menschen würden sich nie eine Reportage über Putins Russland ansehen. Im Rahmen der durchaus anständig gemachten WM-Berichte der öffentlichen Sender erfahren sie nun über das Land so viel wie nie zuvor. Aber das sind nur Seiteneffekte.
In erster Linie geht es natürlich um etwas anderes. Zurzeit erleben wir gerade wieder, dass Fußball dem Kino, Theater, Museen und allem anderen den Rang abläuft. Dabei lässt sich das Publikum auf fremde Nationen und exotische Fußball- und Fankulturen ein, ob aus Island oder Marokko, es erlebt den Suspense, den die meisten Spiele haben, selbst wenn gerade nicht die allerhöchste Fußballkunst geboten wird; leidet oder freut sich mit seinen Favoriten, debattiert vor, während und nach dem Spiel den Verlauf, beschäftigt sich mit der umfassenden medialen Berichterstattung, den Taktiktafeln, Experten und Spieler-Interviews, wie nichtssagend und aalglatt diese auch immer sein mögen. Kurz: Fußballgroßereignisse wie eine WM oder Champions-League-Spiele sind der letzte Straßenfeger und bieten ein sonst verloren gegangenes riesiges mediales Gemeinschaftserlebnis, von dem auch die globalste Kunst, das Kino, nur träumen kann. Sie werden für einen gewissen Zeitraum zum Teil unseres Lebens, mitunter sogar zum Lebensersatz. Nicht ohne Grund vergleichen auch Nichttheologen gern Fußball und Religion.
Klassische Tragödie
Woran liegt das? Die Faszination des Fußballs begründen nicht nur solche seltenen, aber begehrten Kollektiverfahrungen, sondern auch bessere Dramaturgien. Schon das zweite Vorrundenspiel der Deutschen gegen Schweden bot alle Ingredienzien klassischer Tragödien: seelische Wunden, körperliche Verletzungen, Krise, Katharsis, einen Helden, der eine Niederlage zu verschulden scheint, und diese selbst noch in der allerletzten Sekunde auf märchenhafte Weise in einen Sieg ummünzt.
Vom Kino hat der Fußballbetrieb viel gelernt: Fußball ist nach innen ähnlich durchchoreografiert und -kontrolliert, wie einst jedes Hollywood-Studio, und nach außen medial ähnlich perfekt aufbereitet. Er hat ein komplexes Starsystem kreiert, in dem längst auch Nebenakteure, Ersatzspieler, Trainer, Präsidenten und Sportdirektoren, Ärzte und Spielerfrauen ihren festen Platz haben. Das Drumherum ist mindestens genauso wichtig wie das Spiel selbst.
Dieses aber steht immer noch im Zentrum. Und so bietet Fußball Dramatik pur: Tragödien und Komödien, große Erzählungen und kleine Anekdoten, mit Helden, Schurken, gefallen Engeln und geläuterten Monstern, mit Schönen und Biestern und vor allem mit einem offenem Ausgang: „Die Leut gehe zum Fußball, weil se net wisse, wie’s ausgeht,“wusste schon Sepp Herberger.
Das moderne Lagerfeuer
In seiner nicht formatierten Struktur des „und dann, und dann, und dann“steht Fußball einem Märchen oder einer Kinder-Abenteuergeschichte, dem unschuldigen Erzählen nahe. Dieses Erzählen begann bekanntlich mit der Entdeckung des Feuers: Um das Feuer kann man sitzen, Feuer wärmt, leuchtet, gibt Energie ab. Gute Erzählungen gehen zurück auf diese Ur-Situation, weil sie ein inneres Brennen im Publikum erzeugen können.
Auch Fußball geht zurück zu diesem Erzählen. Die Gemeinschaft der beim Public Viewing Sitzenden hört und sieht zu, wie sich eine zunächst unbekannte Geschichte mit offenem Ausgang entwickelt.
Was nur die besten Erzählungen der Kunst mit dem Fußball verbindet, ist das Überraschungsmoment. Überraschung und Irritation, der Zwang zur ständigen Anpassung an das Neue, ist der Auslöser aller Evolution. Das Leben ist immer wieder herausfordernd – und gelingende Erzählungen des Lebens müssen diese Überraschungsmomente spiegeln.
Vielleicht ist daher Fußball gar nicht das neue Kino, sondern das alte. Das Kino des Jahrmarkts, des Exzesses und des Abenteuers. Wer vom Kino reden will, kann jedenfalls vom Fußball nicht schweigen.
Stadion und Bildschirm sind das moderne Lagerfeuer. Statt einer Mammut-Keule halten wir in unseren Händen Fernbedienung und Bierflasche.