Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Politisches Nachtgebet lockt viele Besucher
Flüchtlinge und Einheimische sprechen in der evangelischen Stadtkirche über ihre Ängste
SIGMARINGEN - Gemeinsam haben Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religionen, Hautfarben und unterschiedlichen Alters das erste politische Nachtgebet in Sigmaringen vorbereitet und gestaltet. Unter dem Motto „ErMutigung“– den anderen Blick wagen“hatte die Diakonische Bezirksstelle Balingen mit ihrer Außenstelle Sigmaringen, der Caritasverband Sigmaringen und die evangelische Kirchengemeinde zum politischen Nachtgebet in die evangelische Stadtkirche eingeladen. Weil so viele Menschen der Einladung gefolgt sind, reichten die 100 in deutsch und englisch verfassten Liedblätter nicht aus.
Unterbrochen von dunklen Orgeltönen begann Barbara Horak, seit kurzem Gewaltschutzkoordinatorin in der LEA, mit Zahlen und Fakten die gegenwärtige Flüchtlingssituation aufzuzeigen: 2017 mussten 68,5 Millionen Menschen aus ihrer Heimat fliehen, gegenwärtig würden 80 Prozent aller Flüchtenden von armen Ländern aufgenommen, insgesamt zehn Länder nähmen zwei Drittel der Flüchtlinge auf. Dass hinter jeder Zahl ein denkender und fühlender Mensch steckt, der im Asylland auf Menschen trifft, die ebenfalls von Ängsten geplagt sind, machten Einheimische und Flüchtlinge aus der LEA mit ihren Aussagen auf bunten Plakaten deutlich: „Ich habe Angst, dass meine Kultur nicht respektiert wird“, „Ist das noch mein Zuhause?“oder „Ich habe Angst, weil keiner mich versteht“und „Kann das mein neues Zuhause werden?“
Pfarrer Ströhle setzt auf Stimme der Mutigen
„Es geht ein tiefer Riss durch unsere Gesellschaft“, setzte Pfarrer Matthias Ströhle an den Anfang seiner Begrüßungsrede. Die Stimme der Mutigen sei gefragt, so Ströhle. „Wir sollten aufeinander hören und miteinander sprechen, im anderen einen von uns sehen, einen, der Heimat sucht und Angst hat, sie zu verlieren.“Nach einem Gebet und der Interpretation des Liedes „Prayer“durch Bettina Letsch sprach Ines Fischer, die Prälaturpfarrerin für Asyl und Flüchtlinge. Die Bibelstelle, in der sich Jesus einer Ehebrecherin gegenübersieht und erst einmal nichts tut, sondern sich selbst hinterfragen will, nahm Fischer als Grundlage für ihre Argumentation. Auch für Mahatma Gandhi oder Martin Luther King habe Meditation, Nachdenken und Beten einen durchaus politischen Anspruch gehabt, denn nur das Hinterfragen der eigenen Position führe weg von Hass und hin zur Liebe.
Erneut trafen danach Einheimische und Flüchtlinge aufeinander und leiteten von der Angst zur Ermutigung über, indem sie in kurzen Dialogen ihr Befinden und ihre Position offenlegten. Den Transfer von der Angst zur Ermutigung leisteten anschließend die Beiträge von Einheimischen und Flüchtlingen im Altarraum und der Wortbeitrag Barbara Horaks. „Die Menschen, die hierherkommen, haben nichts außer ihrer eigenen Identität, ihre Erinnerungen an ihr Aufwachsen und an ihre Heimat. Wir müssen den Mut haben, ihnen unsere Identität zu zeigen, damit sie sie achten und wertschätzen. Ohne den Mut, auf unser Gegenüber zuzugehen und zu sagen: Ich respektiere dich und was dich ausmacht, werden auch wir nicht respektiert.“Nach dem Lied der Bürgerrechtsbewegung „We shall overcome“lud Matthias Ströhle alle Anwesenden in das evangelische Gemeindehaus ein, um bei Häppchen und Getränken den interkulturellen Austausch in geselliger Runde fortzusetzen.