Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Der Weg war das Ziel
In ganz Deutschland sind die Kirchen auf dem Rückzug. In ganz Deutschland? Ein kleines Dorf im Allgäu stemmt sich gegen den Trend. Mit einem nagelneuen Kreuzweg.
Wenn einer im Auftrag des Herrn unterwegs ist, dann kann es schon mal vorkommen, dass es ein bisschen pressiert: Pfarrer Kurt Susak durchkreuzt das Allgäuer Hinterland an diesem schwülwarmen Tag in schnittigem Tempo. Kurven nimmt er mit seinem weißen Audi A3 in Sportausführung geschmeidig und ohne Zögern. Der 40-Jährige kennt hier jeden Baum, stammt der Geistliche doch aus der Kißlegger Gegend, auch wenn er seit bald acht Jahren Stadtpfarrer von Davos in der Schweiz ist, seit 2014 sogar Dekan.
Der Himmel über seinem Auto präsentiert sich in abweisendem Grau. Die Wolkendecke hat Mühe, die Lücken geschlossen zu halten, sodass immer wieder Sonnenstrahlen scharfkantiges
Licht auf die sanften Hügel werfen, über die der Wagen des Pfarrers kurvt. Die meteorologischen Zutaten für ein Unwetter. Dann verlangsamt Susak seine Fahrt, bevor er auf einer Anhöhe sogar kurz anhält: Wie an einer Perlenkette aufgereiht, stehen sie da, weiß leuchtend, die 14 Stationen eines neuen Kreuzweges, respektive ihre Baustelle. Die Dachpfannen fehlen noch. Ebenso die Scheiben aus Sicherheitsglas, hinter denen die hölzernen Tafeln mit den Kreuzwegmotiven künftig vor Wetter und Dieben geschützt sein werden. Die Tafeln stammen aus dem 19. Jahrhundert. Nazarener Stil. Und obwohl also noch einiges zu tun ist, bis das Werk vollendet sein wird, war die feierliche Einweihung schon am Herz-JesuFest. Rund 700 Leute seien dabei gewesen.
„Ist es nicht unglaublich?“, schwärmt Pfarrer Susak, als er den Wagen am Fuße des Kreuzwegs in Merazhofen abgestellt hat und aussteigt. Der fabelhaft gelaunte Mann in seinem schwarzen Anzug, den das weiße Kollar am Kragen sofort als Priester ausweist, strahlt bis über beide Ohren und wieder zurück. Seiner kernigen Figur ist anzusehen, dass auch in Davos nicht das ganze Jahr über immer nur Fastenzeit herrscht. „Und all das zu einer Zeit, wo Kirche sonst auf dem Rückzug ist“, sagt Susak in einer Intensität, als müsse er die letzte Bank einer zugigen Kirche mit seiner Stimme erreichen. Überhaupt hat die Freude des mittelgroß gewachsenen Mannes etwas Ansteckendes. „Das hier ist ein gesegnetes Fleckchen Erde“, sagt er ohne den Hauch eines Zweifels und sein Gesichtsausdruck schlägt um in feierlichen Ernst, während er mit ausgebreiteten Händen auf der Anhöhe über Merazhofen steht, als wolle er das ganze Dorf in den Arm nehmen. Und auch wenn Susak ein im Glauben felsenfester Mensch ist: Dass es mit dem Kreuzweg nach der ganzen Vorgeschichte überhaupt noch einmal irdische Realität werden würde – daran hatte auch der Herr Pfarrer seine Zweifel.
Zurück in die Jahre nach der Jahrtausendwende: Damals träumt der Augustinus-Hieber-Gedächtnisverein bereits von einem Kreuzweg und arbeitet mit dem Ziel darauf hin, ihn im Jahr 2010 pünktlich zum 100. Priesterjubiläum des „Segenspfarrers vom Allgäu“, wie der vielfach verehrte Pfarrer Hieber genannt wurde und wird, einzuweihen. Bestens gelegen kommt dem Verein dabei der Umstand, dass ein wohlhabender Mann aus dem Bayerischen in dieser Zeit positive Fügungen im Umfeld seines Unternehmens der Fürsprache des 1968 gestorbenen Segenspfarrers zuschreibt. Auf diese Weise beseelt, sagt der Mann zu, den Kreuzweg aus Dankbarkeit zu jenem Pfarrer, den viele auch ohne die Anerkennung durch die Amtskirche als heilig verehren, zu stiften. Näheres ist zu dem Mann und den damaligen Umständen nicht zu erfahren, Pfarrer Susak schweigt sich in diesem Punkt aus. Aber spricht man mit Merazhofener Bürgern, ist zu hören, dass der Unternehmer mit seinem Problem zuvor schon vergeblich nach Lourdes und Fatima gepilgert sein soll, bevor seine Bitten schließlich am Grab von Augustinus Hieber Gehör gefunden hätten.
Doch die Großzügigkeit des Stifters stößt damals in Merazhofen nicht nur auf Wohlwollen. Ein kleiner Kreis von Skeptikern befürchtet, dass es mit der Ruhe im Dörfchen weiter bergab gehen könnte, wenn auch noch ein Kreuzweg Pilger anlockt, von denen es am Grab des sagenumwobenen Pfarrers ohnehin schon nicht wenige gibt: Hunderte von Engelsfiguren und Votivtafeln mit Aufschriften wie „Pfarrer Hieber hat geholfen in großer Not!“oder „Vergelt’s Gott, Pfarrer Hieber“zeugen davon. Der Stifter jedenfalls ärgert sich derart über die Bedenken einiger weniger im Dorf, dass er sein Engagement schließlich zurückzieht. Und so stehen über Jahre hinweg lediglich die Sockel auf den sanften Hügeln. Wie hässliche Leerstellen auf der sonst grünen Idylle, Symbole eines Zwistes, der insbesondere den Augustinus-Hieber-Gedächtnisverein, der heute mehr als 800 Mitglieder zählt, schmerzt. Trotz vieler Versuche zur Einigung verschwindet der Stifter von der Bildfläche – und mit ihm die fast 100 000 Euro, die das katholische Projekt kostet.
Geraume Zeit wird es still um den Kreuzweg – und Spötter belächeln bei ihren Spaziergängen die sakrale Dauerbaustelle, deren stumme Zeugen die nutzlos aus der Erde ragenden Fundamente sind. In der Zwischenzeit hat der Gedächtnisverein alle Hände voll zu tun, ein von ihr angestrengtes Seligsprechungsverfahren für den Segenspfarrer voranzutreiben. Die Mitglieder interviewen Zeitzeugen, dokumentieren Tausende Bitten Gläubiger, die sich im Gebet an Pfarrer Hieber wenden und erfassen Wirkungen und Heilungen, die diese durch ihn erfahren haben wollen. All das sind notwendige Voraussetzungen, um später bei der Glaubenskongregation Erfolgsaussichten in Sachen Seligsprechung zu haben. Nach anfänglicher Zurückhaltung begleitet jetzt auch die Diözese Rottenburg-Stuttgart diesen bisweilen Jahrzehnte dauernden Prozess wohlwollend, wie Susak versichert. Dem kleinen Verein ist es gelungen, dass die Sache nun – betreut von einem katholischen Advokaten in Rom – inzwischen im Vatikan liegt.
Dass die Fürbitten an den legendären Priester auch heute noch Wunder wirken, glaubt nicht nur Pfarrer Kurt Susak, der Vorsitzender des Augustinus-Hieber-Gedächtnisvereins ist. Auf seinem Spaziergang zum Grab von Hieber begegnet er einem Paar aus der Gegend von Karlsruhe, das jedes Jahr nach Merazhofen fährt, um sich im Glauben zu stärken. Zuvor sei man in Wigratzbad gewesen. An rund zwei Dutzend Andachten habe man teilgenommen, sagt die Ehefrau, die ein bisschen schlecht zu Fuß ist. Susak hört zu und warnt im Scherz vor einer Gnadenüberdosis. Das kleine Grüppchen lacht, reicht sich die Hände.
Menschen wie das Ehepaar aus Karlsruhe seien es, die auch den Wunsch im Dorf hätten aufkeimen lassen, eine Begegnungsstätte zu haben, um sich noch intensiver mit dem Mysterium des Segenspfarrers auseinandersetzen zu können. „Und was wäre da besser geeignet als das Pfarrhaus, in dem er gelebt hat?“, fragt Susak und gibt damit bereits die Antwort. Der glückliche Umstand – „oder war es Fügung?“– einer „ansehnlichen“Erbschaft lässt diesen Traum jetzt gerade Wirklichkeit werden. Augenblicklich wird das alte Pfarrhaus saniert. Geplant ist neben einem Café auch ein Museum, um das Andenken an Hieber aufrechtzuerhalten. Außerdem soll der Gedächtnisverein eine Geschäftsstelle bekommen. „Sehen Sie nur“, sagt Kurt Susak mit salbungsvoller Stimme, als er das Arbeitszimmer des Segenspfarrers betritt.
„Ohne ihn wäre das alles nicht möglich“, sagt Konrad Schöllhorn, der in Merazhofen seit mehr als 25 Jahren Kirchenpfleger – also Mesner – ist. Außerdem Schatzmeister des Gedächtnisvereins. Umtriebig sei Susak. Wenn er ein-, zweimal im Jahr in Merazhofen predige, sei die Kirche gerammelt voll. „Eine treibende Kraft.“Darauf angesprochen, wiegelt der Geistliche ab und unterstreicht: „Davos hat natürlich einen Standortvorteil.“ Das Weltwirtschaftsforum bringe es mit sich, dass im Pfarrhaus in den Schweizer Alpen regelmäßig hochrangige Kardinäle zu Gast seien. „Da kommt man ins Gespräch“, sagt Susak und freut sich, dass er bei dieser Gelegenheit so manchen Rat habe bekommen können, der auch der Sache des Gedächtnisvereins diene.
Es ist Nachmittag geworden in Merazhofen. Der Blick aus den Fenstern des Pfarrhauses offenbart erste dicke Regentropfen, die aufs Pflaster klatschen. Kurt Susak beschleunigt seinen Schritt und erzählt auf dem Spaziergang zum Grab des Augustinus Hieber, wie es mit dem Kreuzweg – zwar mit acht Jahren Verspätung – dann doch noch geklappt hat. „Der Verein war sehr fleißig“, er habe unablässig Spenden gesammelt. Und man habe in Bürgerversammlungen den anfänglichen Kritikern ihre Befürchtungen nehmen können. „Auch mit Hinblick auf die Entwicklung des Dorfes.“Denn lange sei es her, dass in Merazhofen irgendetwas neu aufgemacht habe. Vielmehr sei es anders herum: Gasthof, Laden, Kindergarten – alles nach und nach verschwunden. Und so habe man sich mit dem Kreuzweg und der Sanierung sowie der Öffnung des Pfarrhauses auf den Weg in die Zukunft gemacht.
Ein Aufbruch, ausgerechnet mit einem Kreuzweg? Im Jahr 2018? Kein Widerspruch? „Ich glaube fest daran, dass die Zeiten für die Sache der Kirche auch wieder besser werden“, sagt Kurt Susak, der jetzt vor dem Grab des Allgäuer Segenspfarrers steht. Es ist umgeben von Hunderten Votivtafeln. In einer riesigen Vitrine brennen massenhaft Kerzen. Man müsse als Kirche wieder stärker auf die Menschen zugehen und nicht bloß warten, dass die Leute von alleine kämen. Wie zum Beweis geht Susak auf einen Mann zu, der sich auf zwei Stöcke stützt. „Seid ihr belastet?“, fragt der Geistliche. Der Mann und seine Frau nicken stumm. „Hier findet ihr Trost“, verspricht der Pfarrer, der wegen des jetzt wieder stärker einsetzenden Regens lauter sprechen muss. Unter dem Wolkenbruch eilt der Priester zurück zum Parkplatz am Fuße des Kreuzwegs. Sein schwarzer Anzug glänzt vor Nässe. Kurt Susak steigt in seinen sportlichen Audi und winkt zum Abschied. Eilig zieht er davon in seinem weißen Wagen, über die Hügel des Allgäus, durch das Grau des Wolkenbruchs, bis er hinter Deutschlands – ja wahrscheinlich sogar Europas – einziger Kreuzwegbaustelle verschwunden ist.