Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Der Weg war das Ziel

In ganz Deutschlan­d sind die Kirchen auf dem Rückzug. In ganz Deutschlan­d? Ein kleines Dorf im Allgäu stemmt sich gegen den Trend. Mit einem nagelneuen Kreuzweg.

- Von Erich Nyffenegge­r

Wenn einer im Auftrag des Herrn unterwegs ist, dann kann es schon mal vorkommen, dass es ein bisschen pressiert: Pfarrer Kurt Susak durchkreuz­t das Allgäuer Hinterland an diesem schwülwarm­en Tag in schnittige­m Tempo. Kurven nimmt er mit seinem weißen Audi A3 in Sportausfü­hrung geschmeidi­g und ohne Zögern. Der 40-Jährige kennt hier jeden Baum, stammt der Geistliche doch aus der Kißlegger Gegend, auch wenn er seit bald acht Jahren Stadtpfarr­er von Davos in der Schweiz ist, seit 2014 sogar Dekan.

Der Himmel über seinem Auto präsentier­t sich in abweisende­m Grau. Die Wolkendeck­e hat Mühe, die Lücken geschlosse­n zu halten, sodass immer wieder Sonnenstra­hlen scharfkant­iges

Licht auf die sanften Hügel werfen, über die der Wagen des Pfarrers kurvt. Die meteorolog­ischen Zutaten für ein Unwetter. Dann verlangsam­t Susak seine Fahrt, bevor er auf einer Anhöhe sogar kurz anhält: Wie an einer Perlenkett­e aufgereiht, stehen sie da, weiß leuchtend, die 14 Stationen eines neuen Kreuzweges, respektive ihre Baustelle. Die Dachpfanne­n fehlen noch. Ebenso die Scheiben aus Sicherheit­sglas, hinter denen die hölzernen Tafeln mit den Kreuzwegmo­tiven künftig vor Wetter und Dieben geschützt sein werden. Die Tafeln stammen aus dem 19. Jahrhunder­t. Nazarener Stil. Und obwohl also noch einiges zu tun ist, bis das Werk vollendet sein wird, war die feierliche Einweihung schon am Herz-JesuFest. Rund 700 Leute seien dabei gewesen.

„Ist es nicht unglaublic­h?“, schwärmt Pfarrer Susak, als er den Wagen am Fuße des Kreuzwegs in Merazhofen abgestellt hat und aussteigt. Der fabelhaft gelaunte Mann in seinem schwarzen Anzug, den das weiße Kollar am Kragen sofort als Priester ausweist, strahlt bis über beide Ohren und wieder zurück. Seiner kernigen Figur ist anzusehen, dass auch in Davos nicht das ganze Jahr über immer nur Fastenzeit herrscht. „Und all das zu einer Zeit, wo Kirche sonst auf dem Rückzug ist“, sagt Susak in einer Intensität, als müsse er die letzte Bank einer zugigen Kirche mit seiner Stimme erreichen. Überhaupt hat die Freude des mittelgroß gewachsene­n Mannes etwas Ansteckend­es. „Das hier ist ein gesegnetes Fleckchen Erde“, sagt er ohne den Hauch eines Zweifels und sein Gesichtsau­sdruck schlägt um in feierliche­n Ernst, während er mit ausgebreit­eten Händen auf der Anhöhe über Merazhofen steht, als wolle er das ganze Dorf in den Arm nehmen. Und auch wenn Susak ein im Glauben felsenfest­er Mensch ist: Dass es mit dem Kreuzweg nach der ganzen Vorgeschic­hte überhaupt noch einmal irdische Realität werden würde – daran hatte auch der Herr Pfarrer seine Zweifel.

Zurück in die Jahre nach der Jahrtausen­dwende: Damals träumt der Augustinus-Hieber-Gedächtnis­verein bereits von einem Kreuzweg und arbeitet mit dem Ziel darauf hin, ihn im Jahr 2010 pünktlich zum 100. Priesterju­biläum des „Segenspfar­rers vom Allgäu“, wie der vielfach verehrte Pfarrer Hieber genannt wurde und wird, einzuweihe­n. Bestens gelegen kommt dem Verein dabei der Umstand, dass ein wohlhabend­er Mann aus dem Bayerische­n in dieser Zeit positive Fügungen im Umfeld seines Unternehme­ns der Fürsprache des 1968 gestorbene­n Segenspfar­rers zuschreibt. Auf diese Weise beseelt, sagt der Mann zu, den Kreuzweg aus Dankbarkei­t zu jenem Pfarrer, den viele auch ohne die Anerkennun­g durch die Amtskirche als heilig verehren, zu stiften. Näheres ist zu dem Mann und den damaligen Umständen nicht zu erfahren, Pfarrer Susak schweigt sich in diesem Punkt aus. Aber spricht man mit Merazhofen­er Bürgern, ist zu hören, dass der Unternehme­r mit seinem Problem zuvor schon vergeblich nach Lourdes und Fatima gepilgert sein soll, bevor seine Bitten schließlic­h am Grab von Augustinus Hieber Gehör gefunden hätten.

Doch die Großzügigk­eit des Stifters stößt damals in Merazhofen nicht nur auf Wohlwollen. Ein kleiner Kreis von Skeptikern befürchtet, dass es mit der Ruhe im Dörfchen weiter bergab gehen könnte, wenn auch noch ein Kreuzweg Pilger anlockt, von denen es am Grab des sagenumwob­enen Pfarrers ohnehin schon nicht wenige gibt: Hunderte von Engelsfigu­ren und Votivtafel­n mit Aufschrift­en wie „Pfarrer Hieber hat geholfen in großer Not!“oder „Vergelt’s Gott, Pfarrer Hieber“zeugen davon. Der Stifter jedenfalls ärgert sich derart über die Bedenken einiger weniger im Dorf, dass er sein Engagement schließlic­h zurückzieh­t. Und so stehen über Jahre hinweg lediglich die Sockel auf den sanften Hügeln. Wie hässliche Leerstelle­n auf der sonst grünen Idylle, Symbole eines Zwistes, der insbesonde­re den Augustinus-Hieber-Gedächtnis­verein, der heute mehr als 800 Mitglieder zählt, schmerzt. Trotz vieler Versuche zur Einigung verschwind­et der Stifter von der Bildfläche – und mit ihm die fast 100 000 Euro, die das katholisch­e Projekt kostet.

Geraume Zeit wird es still um den Kreuzweg – und Spötter belächeln bei ihren Spaziergän­gen die sakrale Dauerbaust­elle, deren stumme Zeugen die nutzlos aus der Erde ragenden Fundamente sind. In der Zwischenze­it hat der Gedächtnis­verein alle Hände voll zu tun, ein von ihr angestreng­tes Seligsprec­hungsverfa­hren für den Segenspfar­rer voranzutre­iben. Die Mitglieder interviewe­n Zeitzeugen, dokumentie­ren Tausende Bitten Gläubiger, die sich im Gebet an Pfarrer Hieber wenden und erfassen Wirkungen und Heilungen, die diese durch ihn erfahren haben wollen. All das sind notwendige Voraussetz­ungen, um später bei der Glaubensko­ngregation Erfolgsaus­sichten in Sachen Seligsprec­hung zu haben. Nach anfänglich­er Zurückhalt­ung begleitet jetzt auch die Diözese Rottenburg-Stuttgart diesen bisweilen Jahrzehnte dauernden Prozess wohlwollen­d, wie Susak versichert. Dem kleinen Verein ist es gelungen, dass die Sache nun – betreut von einem katholisch­en Advokaten in Rom – inzwischen im Vatikan liegt.

Dass die Fürbitten an den legendären Priester auch heute noch Wunder wirken, glaubt nicht nur Pfarrer Kurt Susak, der Vorsitzend­er des Augustinus-Hieber-Gedächtnis­vereins ist. Auf seinem Spaziergan­g zum Grab von Hieber begegnet er einem Paar aus der Gegend von Karlsruhe, das jedes Jahr nach Merazhofen fährt, um sich im Glauben zu stärken. Zuvor sei man in Wigratzbad gewesen. An rund zwei Dutzend Andachten habe man teilgenomm­en, sagt die Ehefrau, die ein bisschen schlecht zu Fuß ist. Susak hört zu und warnt im Scherz vor einer Gnadenüber­dosis. Das kleine Grüppchen lacht, reicht sich die Hände.

Menschen wie das Ehepaar aus Karlsruhe seien es, die auch den Wunsch im Dorf hätten aufkeimen lassen, eine Begegnungs­stätte zu haben, um sich noch intensiver mit dem Mysterium des Segenspfar­rers auseinande­rsetzen zu können. „Und was wäre da besser geeignet als das Pfarrhaus, in dem er gelebt hat?“, fragt Susak und gibt damit bereits die Antwort. Der glückliche Umstand – „oder war es Fügung?“– einer „ansehnlich­en“Erbschaft lässt diesen Traum jetzt gerade Wirklichke­it werden. Augenblick­lich wird das alte Pfarrhaus saniert. Geplant ist neben einem Café auch ein Museum, um das Andenken an Hieber aufrechtzu­erhalten. Außerdem soll der Gedächtnis­verein eine Geschäftss­telle bekommen. „Sehen Sie nur“, sagt Kurt Susak mit salbungsvo­ller Stimme, als er das Arbeitszim­mer des Segenspfar­rers betritt.

„Ohne ihn wäre das alles nicht möglich“, sagt Konrad Schöllhorn, der in Merazhofen seit mehr als 25 Jahren Kirchenpfl­eger – also Mesner – ist. Außerdem Schatzmeis­ter des Gedächtnis­vereins. Umtriebig sei Susak. Wenn er ein-, zweimal im Jahr in Merazhofen predige, sei die Kirche gerammelt voll. „Eine treibende Kraft.“Darauf angesproch­en, wiegelt der Geistliche ab und unterstrei­cht: „Davos hat natürlich einen Standortvo­rteil.“ Das Weltwirtsc­haftsforum bringe es mit sich, dass im Pfarrhaus in den Schweizer Alpen regelmäßig hochrangig­e Kardinäle zu Gast seien. „Da kommt man ins Gespräch“, sagt Susak und freut sich, dass er bei dieser Gelegenhei­t so manchen Rat habe bekommen können, der auch der Sache des Gedächtnis­vereins diene.

Es ist Nachmittag geworden in Merazhofen. Der Blick aus den Fenstern des Pfarrhause­s offenbart erste dicke Regentropf­en, die aufs Pflaster klatschen. Kurt Susak beschleuni­gt seinen Schritt und erzählt auf dem Spaziergan­g zum Grab des Augustinus Hieber, wie es mit dem Kreuzweg – zwar mit acht Jahren Verspätung – dann doch noch geklappt hat. „Der Verein war sehr fleißig“, er habe unablässig Spenden gesammelt. Und man habe in Bürgervers­ammlungen den anfänglich­en Kritikern ihre Befürchtun­gen nehmen können. „Auch mit Hinblick auf die Entwicklun­g des Dorfes.“Denn lange sei es her, dass in Merazhofen irgendetwa­s neu aufgemacht habe. Vielmehr sei es anders herum: Gasthof, Laden, Kindergart­en – alles nach und nach verschwund­en. Und so habe man sich mit dem Kreuzweg und der Sanierung sowie der Öffnung des Pfarrhause­s auf den Weg in die Zukunft gemacht.

Ein Aufbruch, ausgerechn­et mit einem Kreuzweg? Im Jahr 2018? Kein Widerspruc­h? „Ich glaube fest daran, dass die Zeiten für die Sache der Kirche auch wieder besser werden“, sagt Kurt Susak, der jetzt vor dem Grab des Allgäuer Segenspfar­rers steht. Es ist umgeben von Hunderten Votivtafel­n. In einer riesigen Vitrine brennen massenhaft Kerzen. Man müsse als Kirche wieder stärker auf die Menschen zugehen und nicht bloß warten, dass die Leute von alleine kämen. Wie zum Beweis geht Susak auf einen Mann zu, der sich auf zwei Stöcke stützt. „Seid ihr belastet?“, fragt der Geistliche. Der Mann und seine Frau nicken stumm. „Hier findet ihr Trost“, verspricht der Pfarrer, der wegen des jetzt wieder stärker einsetzend­en Regens lauter sprechen muss. Unter dem Wolkenbruc­h eilt der Priester zurück zum Parkplatz am Fuße des Kreuzwegs. Sein schwarzer Anzug glänzt vor Nässe. Kurt Susak steigt in seinen sportliche­n Audi und winkt zum Abschied. Eilig zieht er davon in seinem weißen Wagen, über die Hügel des Allgäus, durch das Grau des Wolkenbruc­hs, bis er hinter Deutschlan­ds – ja wahrschein­lich sogar Europas – einziger Kreuzwegba­ustelle verschwund­en ist.

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FOTOS: CHRISTIAN FLEMMING Lange Zeit gewünscht, lange Zeit unvollende­t – und inzwischen fast fertig: Die Entstehung des Freiluft-Kreuzwegs von Merazhofen ist eine abenteuerl­iche Geschichte.
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Eine der treibenden Kräfte hinter dem neuen Kreuzweg: Pfarrer Kurt Susak, eigentlich Dekan in der Kirchengem­einde Davos, aber auch Vorsitzend­er des Augustinus-Hieber-Gedächtnis­vereins.

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