Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Mit kühlem Kopf zum weichen Brexit
Kaum hatte US-Präsident Donald Trump ihren Landsitz Chequers verlassen, musste sich Theresa May wieder ihrer aktuellen Kernaufgabe zuwenden: Dem Kampf um ihre neue Brexit-Strategie und damit auch um ihr Überleben im Amt der Premierministerin. Heute steht der konservativen Regierungschefin neues Ungemach ins Haus: In seiner Zeitungskolumne will der zurückgetretene Außenminister Boris Johnson sein Schweigen brechen, ehe er nachmittags im Unterhaus eine kurze Rücktrittserklärung abgibt. Hardliner drängen den Brexit-Vormann zum Aufstand: „Eine weitere Chance bekommt er nicht.“
Nachdem sie in Chequers einflussreiche Hinterbänkler umgarnt hatte, ging May am Sonntag in einer Zeitungskolumne und im BBC-Studio in die Offensive. Wer ihr Knüppel zwischen die Beine werfe, setze den EU-Austritt an sich aufs Spiel. Schließlich stehe die Labour-Opposition unter Jeremy Corbyn zur Machtübernahme bereit. Einwände wischte sie beiseite. „Viele Leute haben mit dem Herzen abgestimmt. Ich muss kühlen Kopf bewahren und praktisch bleiben.“Damit meint May das Brexit-Weißbuch, dessen Inhalt Johnson und Brexit-Minister David Davis zum Rücktritt veranlasste. Brexit-Ultra Jacob Rees-Mogg nennt das 98-seitige Schriftwerk verächtlich „das Kapitulationspapier“.
Mays Ideen von einem „Assoziationsabkommen“; vom Verbleib der Insel in einer Freihandelszone für Güter unter einem „gemeinsamen Regelwerk“, sprich: den geltenden EU-Direktiven; von der „angemessenen Aufmerksamkeit“, die britische Gerichte auch zukünftig den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs EuGH widmen sollen – all dies ergibt einen viel weicheren Brexit, als ihn May und ihre Partei bisher mit dem Austritt aus Zollunion und Binnenmarkt verfolgt hatten.
Der Kurswechsel ist dem lauter werdenden Einspruch aus der Industrie und der harten Brüsseler Verhandlungsposition geschuldet. Doch Realismus steht bei vielen Tory-Mitgliedern und -Wählern nicht hoch im Kurs. Erstmals seit Monaten liegt Labour in Umfragen bis zu fünf Punkte vor den Konservativen.
Gebannt wartet das politische London nun auf die erste Kolumne des gelernten Journalisten Johnson in seinem Leib- und Magenblatt „Daily Telegraph“. Wird er, wie bereits in seinem Rücktrittsschreiben, Großbritanniens zukünftigen Status als „Kolonie“der EU beschwören? Klar ist: Für eine Herausforderung Mays bleibt wenig Zeit. Schon in zehn Tagen begibt sich das Parlament in die Ferien; bis dahin müsste die Vertrauensabstimmung in der Fraktion über die Bühne gegangen sein. Um dies herbeizuführen, müssten 48 von 316 Torys einen Brief an den zuständigen Parteiobmann schreiben. Doch Mays Lager kämpft. Tatsächlich wirkt unwahrscheinlich, dass sich eine Mehrheit hinter Johnson versammelt. Vor allem aber müssten er oder Davis eine Alternative zum neuen Regierungsplan vorlegen. Vielleicht wollen sie ja Trumps Idee in die Tat umsetzen? Der US-Präsident, verriet May am Sonntag lächelnd, habe ihr „geraten, die EU zu verklagen“anstatt mit Brüssel zu verhandeln.