Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Özil-Rücktritt befeuert Integrationsdebatte
Kretschmann wirft türkischem Präsidenten Spalterei vor – DFB verteidigt sich
STUTTGART/BERLIN - Der Rücktritt von Mesut Özil aus der deutschen Fußballnationalmannschaft hat eine Debatte über die Akzeptanz von Menschen mit Migrationshintergrund entfacht. Für Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ist vor allem die türkische Regierung verantwortlich, dass die Debatte eskalieren konnte. „Wir haben in Deutschland einige Spieler, deren Wurzeln in Ländern liegen, die keine wirklichen Demokratien sind. Aber nur Präsident Erdogan schafft es, hierzulande aggressiv aufzutreten und zu spalten“, sagte Kretschmann den „Badischen Neuesten Nachrichten“. Die Frage sei nicht, ob Özil und der Deutsche Fußball-Bund (DFB) alles richtig gemacht hätten, so Kretschmann. Wichtiger sei es, klare Haltung gegenüber spalterischen Politikern zu zeigen.
CDU-Bundesvize Thomas Strobl forderte von dem Fußballer ein Bekenntnis zu den deutschen Werten. „Niemand muss oder soll Wurzeln verleugnen“, sagte Baden-Württembergs Innenminister der „Bild“-Zeitung. Die Bundesregierung würdigte die Leistungen Özils. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schätze Özil sehr, sagte eine Regierungssprecherin am Montag in Berlin. Er habe Großartiges für die deutsche Nationalmannschaft geleistet. Seine Entscheidung sei „zu respektieren“.
Der frühere Grünen-Chef Cem Özdemir ist nicht überzeugt von Özils Erklärung, kritisierte aber auch den DFB. Beim Verband sei in diesem Fall „von Anfang bis Ende alles“schiefgelaufen, sagte er der „Schwäbischen Zeitung“. „Özil hat gesagt, er sei ein Deutscher, wenn er gewinnt, aber ein Migrant, wenn er verliert. Das sollte uns alle sehr nachdenklich machen“, so der Grünen-Politiker. Der DFB verteidigte sich am Montag. In einer Mitteilung hieß es: „Dass der DFB mit Rassismus in Verbindung gebracht wird, weisen wir aber mit Blick auf seine Repräsentanten, Mitarbeiter, die Vereine, die Leistungen der Millionen Ehrenamtlichen an der Basis in aller Deutlichkeit zurück.“
Der Fußballprofi Özil war wegen eines Fotos mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in die Kritik geraten. Nach wochenlangen Debatten um seine Person erklärte Özil am Sonntag seinen Rückzug.
ISTANBUL - In der Türkei wird der Rücktritt von Mesut Özil aus der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und die Diskussion um den 29Jährigen als Rückschlag für die Integration von Türken in der Bundesrepublik gesehen. Özil habe mit seiner Kritik an der Haltung deutscher Politiker und Verbandsfunktionäre „meiner und seiner Generation aus der Seele gesprochen“, sagte der in Deutschland aufgewachsene türkische Parlamentsabgeordnete Mustafa Yeneroglu am Montag der „Schwäbischen Zeitung“in Istanbul: „Trotz
92 Länderspielen immer noch Bürger auf Bewährung? Das geht natürlich nicht.“Auch der ehemalige SPD-Europaabgeordnete Ozan Ceyhun kritisierte die Attacken auf Özil in der Bundesrepublik: „Die Integration hat verloren.“Vertreter der türkischen Regierung lobten Özil für seinen Rücktritt aus dem deutschen Team.
Früher gab es Anfeindungen
Dabei war Özil in der Vergangenheit in der Türkei wegen seiner Entscheidung für die deutsche Nationalmannschaft zeitweise angefeindet worden. Bei deutschen Länderspielen gegen die Türkei wurde er von türkischen Fans mitunter ausgepfiffen. Zuletzt aber hätten viele Türken bei der WM in Russland wegen Özil den Deutschen die Daumen gedrückt, sagte Ceyhun unserer Zeitung. „Özil war ein tolles Vorbild“für Türken in Deutschland, sagte er. „Er war der Beweis, dass man etwas werden kann und anerkannt wird – doch man sieht, es ist nicht so einfach“, fügte Ceyhun hinzu. „Jetzt haben wir dieses Vorbild verloren.“
Yeneroglu, Parlamentsabgeordneter für Erdogans Partei AKP, warf deutschen Politikern vor, ihre Reaktionen auf den türkischen Staatspräsidenten zu verkürzen. „Bei der Diskussion geht es aber nicht um Erdogan“, betonte Yeneroglu. „Es geht um Bevormundung, es geht darum, dass man den Migranten das einseitige deutsche Bild von Erdogan aufzwingen will und solchen, die nicht spuren, den Weg zum Ausgang weist.“
Nach dem Rücktritt komme es nun sehr auf die Haltung des Deutschen Fußballbundes (DFB) an, fügte Yeneroglu hinzu. Özil hatte DFBPräsident Reinhard Grindel vorgeworfen, ihn zum „Sündenbock“gemacht zu haben. Grindel und seine Unterstützer würden ihn nur dann als Deutschen anerkennen, wenn er Erfolg habe: „Aber ich bin ein Einwanderer, wenn wir verlieren“, kritisierte Özil.
„Sollte der Verband auf die Vorhaltungen nicht eingehen und sich stur zeigen, wozu Präsident Grindels politische Laufbahn gut passen würde, bedeutete dies eine klare Ausgrenzung von Menschen, die ihre pluralistische Identität auch leben“, sagte Yeneroglu dazu. „So werden sich gerade türkische Jugendliche in Deutschland in Zukunft gut überlegen, ob sie das Trikot mit SchwarzRot-Gold überstreifen oder Halbmond tragen.“In der Türkei seien Spieler wie Özil „ohne Wenn und Aber willkommen“. Respekt gehöre in der Türkei zur guten Erziehung, „vor welchem Staatsoberhaupt auch immer“.
Türkische Medien und Regierungsvertreter signalisierten Unterstützung für den türkischstämmigen Profi von Arsenal London. „Mesut, wir sind stolz auf dich“, titelte die Zeitung „Türkiye“in deutscher Sprache.
Der türkische Sportminister Mehmet Kasapoglu schrieb auf Twitter, er unterstütze Özils „ehrenhafte Haltung“von ganzem Herzen; Kasapoglu nannte Özil einen „Bruder“. Justizminister Abdulhamit Gül beschrieb den Rücktritt des Nationalspielers als „schönstes Tor gegen den Virus des Faschismus“.
Einmal Türke, immer Türke?
Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin twitterte, Özil habe eine „völlig vernünftige Erklärung“für sein Treffen mit dem türkischen Staatschef geliefert. Dennoch sei der Spieler unter erheblichen Druck geraten.
Besonders Özils Aussage, dass er nach wie vor zu dem umstrittenen Erdogan-Foto steht, wurde ihm von türkischen Medien hoch angerechnet. Damit treffen sich gewissermaßen rechtspopulistische Kritiker Özils in Deutschland mit türkischen Rechtspopulisten – beide Seiten sind überzeugt: einmal Türke, immer Türke. Özil stehe zwischen den Nationalisten beider Länder, kommentierte die linke Tageszeitung „Evrensel“.