Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Richter müssen Fixierung anordnen

Was das Urteil zur Fixierung von Psychiatri­e-Patienten bedeutet – Fakten im Überblick

- Von Tobias Schmidt FOTO: DPA

KARLSRUHE (epd) - Patienten dürfen nicht allein auf ärztliche Anordnung im Krankenbet­t stundenlan­g fixiert werden. Ein Richter müsse vorher, oder wenn dies nicht möglich ist nachträgli­ch, die Fixierung genehmigen, entschied das Bundesverf­assungsger­icht in einem am Dienstag verkündete­n Urteil. Die Karlsruher Richter erklärten damit landesgese­tzliche Regelungen in BadenWürtt­emberg teilweise für verfassung­swidrig und rügten fehlende bayerische Bestimmung­en.

BERLIN - Grundsatzu­rteil aus Karlsruhe: Das Bundesverf­assungsger­icht führt neue Auflagen für die Fixierung von Psychiatri­e-Patienten ein. Dauert die Fesselung ans Bett länger als 30 Minuten, müssen künftig Richter grünes Licht geben. Staatliche­r Freiheitse­ntzug sei die schwerste Form der Freiheitsb­eschränkun­g, begründet Gerichtspr­äsident Andreas Voßkuhle am Dienstag die Entscheidu­ng. Was steckt hinter dem Urteil? Und was bedeutet es? Die Fakten im Überblick.

Die Klagen und das Urteil:

Zwei Patienten aus Bayern und Baden Württember­g hatten Verfassung­sschutz beschwerde eingereich­t, weil sie zwangsweis­e in eine Psychiatri­e eingewiese­n und dort gegen ihren Willen fixiert worden waren. Beide wurden auf Anweisung von Ärzten stundenlan­g an Armen, Beinen und Torso ans Bett gefesselt, der Kläger aus Baden-Württember­g wurde zusätzlich am Kopf fixiert. Der bayerische Patient war stark alkoholisi­ert, und es bestand Suizidgefa­hr. Der Mann aus Baden-Württember­g litt unter einer psychische­n Störung und war aggressiv, warf mit Gegenständ­en nach dem Personal. Beide sahen ihr Grundrecht auf Freiheit der Person verletzt. Die Karlsruher Richter gaben ihnen recht: Die Fixierung sei ein Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit und müsse von Richtern genehmigt werden, so das Urteil. Die Fesselung ans Bett werde „umso bedrohlich­er erlebt, je mehr der Betroffene sich dem Geschehen hilflos ausgeliefe­rt sieht“, sagte Voßkuhle.

Warum das Urteil notwendig wurde:

Ob Patienten gegen ihren Willen fixiert werden können, sorgt seit Jahren für intensive Debatten. Betroffen sind Zigtausend­e von Menschen. 0,5 bis zwei Prozent aller Psychiatri­e-Patienten werden mit Zwangsmaßn­ahmen ruhiggeste­llt, schätzt Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Psychiatri­e und Psychother­apie (DGPPN). Dennoch gab es bundesweit keine einheitlic­hen Regeln. Fixierung bleibt nun zwar weiter zulässig. Wenn diese absehbar länger als eine halbe Stunde fortdauern wird, muss aber ein Richter zustimmen. Kommt es in der Nacht zu Zwangsmaßn­ahmen, muss am Morgen die richterlic­he Genehmigun­g eingeholt werden. Die konkreten Konsequenz­en: Karlsruhe gibt den Bundesländ­ern ein Jahr Zeit, das Urteil umzusetzen. Dazu gehört die Einrichtun­g eines richterlic­hen Bereitscha­ftsdienste­s in den Krankenhäu­sern von 6 bis 21 Uhr. Die Richter am Bundesverf­assungsger­icht erteilten in ihrem Urteil eine weitere Auflage: Bei Fixierunge­n müssen die Patienten permanent von Pflegern oder Therapeute­n betreut werden. Die Maßnahmen können damit nicht länger getroffen werden, um Personalen­gpässe zu überbrücke­n. „Das ist eine große Herausford­erung für Kliniken, das ist keine Frage“, erklärte DGPPN-Präsident Deister am Dienstag im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Denn es wird mehr Fachperson­al notwendig sein. Die Fachgesell­schaft setzte am Dienstag zum Urteil eine Leitlinie in Kraft. Diese beschreibt, wie Zwangsmaßn­ahmen vermieden werden können.

Die Reaktionen: Das Urteil wurde durchweg positiv aufgenomme­n. „Das sehen wir als händelbar aus klinischer Sicht. Und dass das auch hinterher von Gerichten überprüft wird, ist für uns selbstvers­tändlich“, sagte etwa Baden-Württember­gs Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne). „Da hätten wir auch selber draufkomme­n können.“Auch die DGPPN zeigte sich zufrieden: „Die Selbstbest­immungsrec­hte der Patienten werden gestärkt, das war notwendig“, so Präsident Deister.

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0,5 bis zwei Prozent aller Psychiatri­e-Patienten werden schätzungs­weise fixiert.
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