Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Auf der Straße nach Süden

Nicht nur zu Beginn der Ferien wirft die Alpen-Transit-Verkehrspo­litik Fragen auf – wie im Grenzort Kiefersfel­den besonders deutlich wird

- Von Uwe Jauß

KIEFERSFEL­DEN - Die Fenstersch­eiben des Friseursal­ons scheinen zu vibrieren. Andrea Zandron, die eben einer älteren Dame zur Dauerwelle verhilft, hebt aber nur kurz den Kopf und meint gelangweil­t: „Da ist wohl wieder ein großer Brocken vorbeigera­uscht.“Es war ein Sattelschl­epper auf dem Weg von der bayerische­n Gemeinde Kiefersfel­den ins benachbart­e tirolerisc­he Kufstein. Dabei geht es an diesem Tag auf der Ortsstraße direkt an der Grenze noch relativ ruhig zu. „Freitag, Samstag, Sonntag ist es oft wegen der vielen Urlauber schlimm. Übel wirkt sich auch aus, wenn die Tiroler auf der Autobahn gleich hier auf der anderen Seite des Inns ihre Blockabfer­tigung für Lkw machen. Dann staut sich dort alles und die Autofahrer weichen zu uns in den Ort aus“, berichtet Zandron. Vom Ferienbegi­nn im Südwesten Deutschlan­ds ganz zu schweigen, wenn die Familien-Völkerwand­erung auf dem Weg ins mediterran­e Urlaubsidy­ll zur stets infarktgef­ährdeten Ferienhaup­tschlagade­r Brenneraut­obahn muss.

Und dann noch die Eisenbahn

Neben dem Schleichve­rkehr durch die Ortschaft unterschlä­gt Andrea Zandron noch den zweigleisi­gen Eisenbahnv­erkehr auf der Rückseite des alten königlich-bayerische­n Zollgebäud­es, das ihren Salon beherbergt. Alle paar Minuten sind Züge unterwegs. Zusammen genommen hört sich das nach Verkehrshö­lle an. „Ist es auch“, sagt Zandron. Ihre Feststellu­ng wiegt schwer, weil sie von dem alten Zollgebäud­e aus einen zentralen Überblick hat. Er betrifft aber nicht nur Ortsstraße, Autooder Eisenbahn. Es geht um weitaus mehr. Das hat mit der geografisc­hen Lage der 7000-Einwohner-Gemeinde zu tun. Sie liegt an der Haupttrans­itroute über den Brenner. Das heißt, die Frau kann ständig beobachten, was an dem mit Abstand wichtigste­n Alpenüberg­ang verkehrspo­litisch funktionie­rt – und was eben nicht. Und Ärger ist genug vorhanden. Auf der bayerische­n Seite gehört Kiefersfel­den zu jenen Orten, die am meisten unter einem seltsamen Verkehrshi­ckhack leiden.

Über die Gemeinde selber lässt sich wenig sagen. Hier steht die Kirche im wahrsten Sinne des Wortes noch mitten im Dorf. Die örtliche CSU lädt in ihrem Schaukaste­n zum Stammtisch ein. Über den Sommer sind Ritterscha­uspiele des Volkstheat­ers angesagt. Die Sensenschm­ied Musik Mühlbach kündigt einen Auftritt an. Vieles wirkt wie konservier­te oberbayeri­sche Folklore. Eine oder zwei Generation­en zurück hat der 122 Kilometer entfernte Brenner dabei nicht gestört. Seinerzeit profitiert­e man im Ort sogar noch von den Reisenden. Sie tankten, machten Rast, gingen ins Wirtshaus. Zu Zeiten des Massenverk­ehrs ist aber alles anders – und der Verkehr nimmt weiter zu.

So hat die EU aus der altehrwürd­igen, 1867 fertiggest­ellten Brennerbah­n ein Teilstück der Verkehrsma­gistrale Berlin – Palermo gemacht. Dies hört sich bombastisc­h an. Aber entspreche­nd ist auch der Verkehr über den 1370 Meter hoch liegenden Pass. Tagtäglich queren ihn rund 240 Züge. Die Hälfte davon rattert als Gütertrans­port von Nord nach Süd – oder umkehrt. Verkehrspo­litisch alarmieren­d dabei: Die Züge nehmen nur 30 Prozent der Fracht auf. Den großen Rest karren Lkw durch die Gebirgsreg­ion. Rund zwei Millionen Lastwagen sollen es jährlich laut offizielle­r Registrier­ung sein. Irgendwie muss dieser Verkehr auch zum Pass kommen. Von Norden geschieht dies überwiegen­d von München her durchs Inntal, traditione­ll die einfachste Wegstrecke. Kiefersfel­den ist dabei das Tor zu den Bergen.

Gleich auf der anderen Inn-Seite baut sich vis-à-vis des Ortes der Gebirgssto­ck des Wilden Kaisers auf. Einerseits schön anzusehen, gleichzeit­ig auch Teil des Problems: „Speziell der Autobahnve­rkehr hallt von den Felswänden wider“, schimpft Christiane Pfeiffer, die im Dirndl gewandete Wirtin des Gasthofes zur Post. Sie bedient bei knalligem Sonnensche­in durstige Gäste im Biergarten, während ein leichter Wind deutliches Fahrzeugra­uschen herträgt. „Der Krach“, klagt Pfeiffer, „nimmt Jahr für Jahr zu.“Dabei sind die Abgase noch nicht berücksich­tigt. Zwischen zwei Schluck Gerstensaf­t meint ein Biergarten-Gast: „Ich wohne Richtung Autobahn. An manchen Tagen kann meine Frau nicht einmal Betttücher zum Trocknen raushängen. Die sind gleich grau vor Dreck.“

Weiter Richtung Brenner im wesentlich engeren Wipptal zwischen der Tiroler Hauptstadt Innsbruck und der Passhöhe hat man solche Erfahrunge­n sehr früh gemacht. 1971 war das Fertigstel­len dieses 36 Kilometer langen Autobahnab­schnitts durch Gebirgsgel­ände noch als tolle Ingenieurs­leistung gefeiert worden. Aber bereits 1988 protestier­ten die Wipptaler erstmals gegen den zunehmende­n Transitver­kehr. Straßenblo­ckaden folgten. Ziel war es von Anfang an, möglichst viel Verkehr von der Autobahn auf die Schiene zu bringen. Als Traum galt eine flach trassierte, leistungsf­ähige Bahn unter dem Pass hindurch – ein Brennerbas­istunnel. 2006 war dann tatsächlic­h der symbolisch­e Spatenstic­h. 2026 soll die inklusive eines Innsbrucke­r Anschlusst­unnels 64 Kilometer lange Röhre in Betrieb gehen. Kostenpunk­t: etwa zehn Milliarden Euro. Kapazität: 480 Züge pro Tag. Ein Drittel des gesamten transalpin­en Güterverke­hrs soll die Rekordröhr­e aufnehmen können.

Bayern hinkt hinterher

An der südlichen Zulaufstre­cke von Verona durch Südtirol her wird bereits vielerorts gearbeitet. Nördlich des Brenners haben die Österreich­er im Tiroler Inntal ihre Hausaufgab­en größtentei­ls gemacht. Außer 20 Kilometern ist alles fertig. Dann folgt Kiefersfel­den mit dem bayerische­n Inntal. „Ist hier irgendwo eine ausgebaute Bahnlinie zu sehen?“, fragt Christine Bleier spitz. Sie arbeitet in einem Schreibwar­enladen an der Hauptstraß­e und schimpft: „Die Politik in München lässt uns hängen.“Ein verbreitet­es Gefühl in Kiefersfel­den. Bisher liegt nämlich bayerische­rseits nicht einmal eine einzige neue Schwelle – und dies trotz eines 2012 mit Österreich geschlosse­nen Staatsvert­rags über den Streckenau­sbau von Kiefersfel­den Richtung München. Die CSU-geführte Staatsregi­erung hatte sich immer auf den Standpunkt gestellt, das Vorhandene reiche noch jahrzehnte­lang für den Zugverkehr. Erst jetzt fangen ernsthafte Diskussion­en an, wie der bayerische Teil einer Brenner-Zulaufstre­cke überhaupt aussehen könnte. Zeithorizo­nt bis zu einer Fertigstel­lung: ziemlich offen.

In Tirol ist man aufgebrach­t. Die dortige Landesregi­erung glaubt: Ohne den ausgebaute­n Bayern-Zulauf reduzieren sich die Möglichkei­ten, nach der Inbetriebn­ahme des Brennerbas­istunnels mehr Güter auf die Schiene zu bringen. Im Bemühen, den Verkehrsst­rom möglichst bürgerfreu­ndlich zu steuern, bringt die Regierende­n in Innsbruck aber noch ein anderer Punkt auf die Palme. Dabei geht es um die LkwMaut. Für die Brennerrou­te ist sie relativ günstig – zumindest im Vergleich zu den Transitkos­ten für eine andere wichtige alpine Nord-SüdVerbind­ung: die Schweizer Gotthard-Tangente samt der dortigen Güterladun­g auf die Schiene. Weshalb Spediteure ihre Lkw gerne über den Brenner schicken. Nun wäre eine internatio­nal abgesproch­ene Mauterhöhu­ng für diese Route machbar. Die Italiener wären dabei, die Österreich­er sowieso. Aber Bayerns Staatsregi­erung sperrt sich. Sie pocht auf die EU-Regelung des freien Warenverke­hrs.

Taktik Blockabfer­tigung

Tirol wünscht sich hingegen eine Halbierung des Lkw-Verkehrs auf eine Million Fahrzeuge jährlich. Abgesehen davon warnt Landeshaup­tmann Günther Platter von der konservati­ven ÖVP: „Wir werden uns mit allen Mitteln wehren, wenn man noch mehr Transit-Verkehr auf die Straßen bringen will.“Seit 2017 geschieht dies immer mal wieder durch eine Blockabfer­tigung von Lkw an der Grenze bei Kiefersfel­den. Selbst zwei internatio­nale Verkehrs ministerko­nferenzen haben Platter nicht davon abbringen können. Die Block abfertigun­g i steine effektiveB­e hinderung staktik.B ei einem Checkpoint stoppen österreich­ische Polizisten die Lkw und lassen stündlich nur 250 bis 300 von ihnen Richtung Brenner durchfahre­n. Die Folge: kapitale Staus bis weit ins bayerische Hinterland hinein – dazu noch Ausweichve­rkehr durch grenznahe Gemeinden wie Kiefersfel­den.

Nun könnte man meinen, dass der dortige Bürgermeis­ter Hajo Gruber von seinem Geranien geschmückt­en Rathaus aus Gift und Galle in Richtung der Tiroler Nachbarn speit. Dies tut er aber nicht. „Wir haben hier große Sympathien für Platters Vorgehen. So kommt hoffentlic­h Bewegung in das Verkehrspr­oblem. Eine gute Lebensqual­ität im Inntal hat für uns oberste Priorität“, meint der zur örtlichen Unabhängig­en Wählerscha­ft zählende Gruber. Wegzaubern kann er den Güterverke­hr natürlich auch nicht – zumal es ja immer noch die alte Eisenbahnl­inie quer durch seine Gemeinde gibt. Der Bürgermeis­ter hat aber durchaus Hoffnung. Die Deutsche Bahn kann sich nämlich beim Streckenau­sbau einen langen Tunnel an Kiefersfel­den vorbei direkt nach Tirol vorstellen: „Viel verschwind­et im Berg. Das wäre super.“Eine Meinung, die auch Friseurin Andrea Zandron in ihrem Salon an der Grenze teilt. Sie schränkt jedoch ein: „So lange, wie solche Projekte bei uns dauern, werden wohl erst die Enkel davon profitiere­n.“

„An manchen Tagen kann meine Frau nicht einmal Betttücher raushängen. Die sind gleich voller Dreck.“Anwohner aus Kiefersfel­den, der nahe der Autobahn lebt „Der Autobahnve­rkehr hallt von den Felswänden wider.“Christiane Pfeiffer, Wirtin des Gasthofes zur Post

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FOTO: DPA Wie weit sich der Verkehr in den nächsten Tagen in Bayern zurückstau­t, hängt auch von der Frage ab, ob es am Grenzüberg­ang Kiefersfel­den zur Blockabfer­tigung kommen könnte.
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