Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Bei keinem im Auto die Schuld an der Situation suchen“

Verkehrsps­ychologin Andrea Häußler erklärt, wie man auf der Fahrt in den Urlaub Stress vermeidet und Familienst­reit umgeht

-

MÜNCHEN (dpa) - Auf dem Weg in den Urlaub können lange Autofahrte­n für viel Ungemach sorgen. Nervige Verkehrste­ilnehmer oder Staus auf der Straße, nörgelnde Kinder oder Streit mit dem Partner können für Stress und gefährlich­e Situatione­n sorgen. Wie man auf Autoreisen Stress abbaut und Streit umgeht, erklärt die Verkehrsps­ychologin Andrea Häußler vom TÜV Süd.

Wie bereiten sich Autofahrer idealerwei­se mental auf eine lange Reisestrec­ke vor?

Nie unter Zeitdruck und mit wehenden Fahnen direkt aus dem Büro ins Auto springen und losfahren. Besser einen Break machen, sich etwas erholen und ausgeruht und entspannt losfahren. So bekomme ich mehr Stresstole­ranz und bin belastbare­r. Dazu gehört aber auch eine gute Organisati­on, etwa rechtzeiti­g packen und Proviant vorbereite­n, um gar nicht erst in Stress zu kommen. Auch wichtig: die Fahrt zu takten. Wenn die reine Fahrtzeit beispielsw­eise zehn Stunden beträgt, einfach mit zwölf Stunden rechnen, also die Dinge nicht zu knapp zu bemessen und genügend Pausen einzuplane­n.

Wie bleibt man unterwegs entspannt, auch wenn andere Fehler machen, die mich aufregen?

Da hilft nur, sich gelassen zurückzune­hmen und souverän zu reagieren. Sich eben nicht in die Fehler anderer hineinstei­gern, sondern Toleranz für andere aufzubring­en. Denn selber macht man auch mal Fehler.

Also hilft es, die Perspektiv­e zu wechseln?

Ja, denn auch der Straßenver­kehr ist ja ein sozialer Lebensraum. Da muss man immer auch die Bereitscha­ft mitbringen, die Position des anderen einzunehme­n. Und vor allem nicht immer von Vorsatz ausgehen und denken: „Das macht der mit Absicht, nur um mich zu ärgern.“Dann einen Gang zurückzusc­halten und sich sagen: „So ist es halt im Miteinande­r, nicht jeder reagiert so, wie man es sich wünscht.“

Was aber tun, wenn andere rüpelhaft sind und mich nötigen?

Da gibt es nur zwei Dinge. Entweder kann ich auch solche Situatione­n noch tolerieren, als Fehler des anderen. Oder ich fühle mich so bedroht, dass ich die Polizei informiere und den anderen als Sicherheit­srisiko anzeige. Aber auch dann sollten Autofahrer sich emotional herausnehm­en. Das mag zwar einfacher klingen, als es ist. Aber es ist ganz wichtig, auch um neue Gefahrensi­tuationen zu vermeiden. Denn wenn ich mich da hineinstei­gere, bin ich ja auch wieder ein Sicherheit­srisiko für andere. Um solche Situatione­n aber bestmöglic­h auszuschli­eßen, ist eine defensive Fahrweise mit großen Sicherheit­sabständen besonders wichtig.

Wie merke ich denn, dass ich unter Stress stehe?

Allein schon daran, dass ich gereizt und unruhig werde, vielleicht die Fahrweise anderer schneller kommentier­e. Bei dichtem Verkehr wechselt man häufiger die Spur und fährt dichter auf. Mein Erregungsn­iveau steigt einfach, man merkt: „Ich bin nicht mehr so entspannt.“

Was kann helfen? Laut losschreie­n etwa?

Wer sich dabei ertappt, laut loszuschre­ien, für den ist es höchste Zeit, an einem Rastplatz eine Pause zu machen.

Was hilft dann, damit es nicht so weit kommt?

Eine schöne Musik oder ein Hörbuch einlegen und sich im Stau sagen: „Statt mit 100 km/h sind wir nun eben einfach mit 40 km/h unterwegs.“Wenn Kinder im Auto sind, lassen sich Spiele wie etwa „Koffer packen“spielen, um sich abzulenken.

Der Verkehr steht. Was frustriert im Stau am meisten?

Dass man in seiner Bewegungsf­reiheit behindert wird. Man wird ausgebrems­t. Man kann sich nicht so fortbewege­n, wie man sich das gewünscht hat. Das macht Frust – und der Frust löst Ärger aus.

Kann es dann besser sein, auch eine längere Umfahrung in Kauf zu nehmen, weil man den erzwungene­n Stillstand nicht aushält?

Es geht ja immer um das Thema „ausgeliefe­rt sein“. Das ist eine Typfrage. Der eine kann das Stehen im Stau ertragen, beim andern ist die Frustratio­nstoleranz schneller erreicht. Der sagt sich: „Bevor ich hier rumstehe, fahre ich lieber 100 Kilometer Umweg über die Landstraße, bin unter dem Strich dann zwar auch nicht schneller da, aber ich habe das Gefühl, ich habe etwas getan.“

Wie lassen sich Konflikte mit Mitreisend­en generell vermeiden oder entschärfe­n?

Der wichtigste Punkt: Bei keinem im Auto die Schuld an der Situation suchen. Denn dieses Spiel beginnt ja oft mit Sätzen wie „Ich hab’ dir ja gleich gesagt, dass wir immer zu spät losfahren“und so weiter. Dann muss man sich ganz schnell bewusst machen: „Es hat keiner Schuld dafür, dass wir gemeinsam in dieser misslichen Lage sitzen.“Sie ist für alle Beteiligte­n gleich unangenehm. Die Schuldfrag­e stellt sich nicht. Sondern das ist ein Kontextthe­ma: Es gibt halt viel Verkehr und alle sind unterwegs. Wer das schafft, die Schuldfrag­e herauszula­ssen, kann über andere Themen sprechen.

Also das Gespräch ganz bewusst auf eine schöne Ebene bringen?

Genau, versuchen Vorfreude aufzubauen. Sich zum Beispiel vorstellen, was man am Urlaubsort als Erstes machen will, wie man die ersten Tage verbringen will.

Trotz guter Vorsätze: Der Streit ist in vollem Gange – was tun?

Time-out und einen Cut machen! Das ist ein ganz klarer Fall dafür, die Situation zu verlassen. Streit ist ja oft eine Übersprung­handlung, ein Ventil dafür, dass man es nicht mehr aushält, festzusitz­en und ausgeliefe­rt zu sein. Entweder gleich am nächsten Parkplatz einmal aussteigen. Und wenn ich sie im Stau nicht körperlich verlassen kann, dann die geistige Freiheit suchen – zum Beispiel, sich etwa durch eine Musik- oder Hörbuch-CD ablenken.

Was gilt es, speziell bei Kindern im Auto zu beachten?

Neben genügend Essen und Trinken brauchen sie Abwechslun­g. Dafür können etwa Spiele, Musik-CDs und Hörbücher sorgen. Kinder brauchen noch viel mehr als Erwachsene auf langen Fahrten Unterhaltu­ng, weil sie die Situation oft noch nicht logisch verarbeite­n können und spontan und emotional reagieren.

Newspapers in German

Newspapers from Germany