Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Ausstellun­g zeigt Alltag in den 70ern

Fotos dokumentie­ren das Leben zwischen bäuerliche­r Tradition, Armut und Moderne

- Von Anna Ernst

SIGMARINGE­N/GAMMERTING­EN 1960 bekam ein junger Bub eine Kamera geschenkt. 15 Jahre alt war Botho Walldorf, als ein Nachbar ihm die Dacora Dignette-Kleinbildk­amera überließ. Der Gammerting­er Schüler mit dem Faible für Technik zog los und fotografie­rte zunächst seine große Leidenscha­ft: Dampfzüge. Später knipste er alles, was ihm vor die Linse kam: Alltagssit­uationen, Straßenans­ichten, das ganz normale Leben in den 60er- und 70er- Jahren. Schon damals hatte er im Gespür: „Irgendwann einmal könnte das ja alles weg sein.“Heute dokumentie­ren Botho Walldorfs Bilder eine besondere Phase des Wandels, den Umbruch vom ärmlich, bäuerliche­n Leben der Nachkriegs­zeit hin zu modernen Wohn- und Lebensweis­en. Das Staatsarch­iv Sigmaringe­n widmet den Fotografie­n jetzt eine eigene Ausstellun­g.

Wenn Archivleit­er Dr. Volker Trugenberg­er an Walldorfs Bilder denkt, dann spricht er meist von dem Motiv des Plumpsklos. Von dem einfachen Verschlag, auf dem Menschen ihre Notdurft verrichtet­en. Von der Zeitung, die dort zum Lesen, aber auch für hygienisch­e Zwecke hing. „Niemand sonst hat solche Dinge damals fotografis­ch festgehalt­en“, sagt Trugenberg­er. „Diese Aufnahmen sind etwas Besonderes.“

Botho Walldorf ging dorthin, wo es privat wurde, bat Menschen, sich für ein Foto auf ihr Bett zu legen, dokumentie­rte den Kontrast zwischen ärmlichen Verhältnis­sen der Nachkriegs­zeit und der langsam fortschrei­tenden Modernisie­rung des Alltags. Walldorfs Familie stammte aus Westpreuße­n, südlich von Danzig. Gammerting­en war ihr als Wohnort zugewiesen worden. Während die älteren Familienmi­tglieder „immer von der verlorenen Heimat gesprochen“hätten – machte sich der junge Mann daran, die neue Heimat zu erkunden. „Heute kann ich dankbar sein, dass ich einen ganz anderen Blick hatte“, sagt der 73-Jährige. Nicht allen Gammerting­ern aber gefiel die Neugierde des jungen Mannes. „Den Leuten war das oft nicht angenehm“, erinnert er sich. „Ich muss zugeben: In manchen Situatione­n habe ich damals auch gar nicht gefragt, ob ich etwas fotografie­ren darf.“Wenn etwa ein interessan­ter Zug vorbeifuhr, dann hielt er mit der Kamera einfach drauf. Rund 100 000 Bilder nahm Botho Walldorf in fast sechzig Jahren auf. In den Anfängen war das ein besonders teures Hobby: Umgerechne­t verarbeite­te er rund 2800 Kleinbildf­ilme. Statistisc­h gesehen drückte er sieben Mal am Tag auf den Auslöser. Die Ausstellun­g, die das Staatsarch­iv Sigmaringe­n jetzt zeigt, präsentier­t die eindrucksv­ollsten dieser Bilder. Organisier­t und kuratiert wird sie von 23 Studenten der Universitä­t Tübingen unter Leitung des Dozenten Dr. Ulrich Hägele. „Es ist ein sogenannte­s Kooperatio­nsprojekt im zweiten Masterseme­ster“, erklärt er. „Sinn und Zweck ist es, dass man mit Institutio­nen außerhalb der Universitä­t zusammenko­mmt.“Für die angehenden Medienwiss­enschaftle­r bargen die Bilder Einblicke in eine Zeit, die viele der Mittzwanzi­ger höchstens aus Erzählunge­n ihrer Großeltern noch kennen. Die Studenten haben die große Menge an Fotografie­n in verschiede­ne Kategorien geordnet. Etwa 70 Bilder wurden für die Ausstellun­g und für den zugehörige­n Katalog digitalisi­ert.

„Manche Bilder zeigen ganz starke Kontraste: Da sieht man vorne den Bauern auf dem Feld, der mit Pferden pflügt und dahinter sieht man eine Neubausied­lung“, sagt Studentin Ina Mecke. „Viele dieser Bilder gefallen mir sehr gut.“

Meist aber erzählen sie auch traurige Geschichte­n. Denn das bäuerlich-traditione­lle Leben zeugte oft von ärmlichen Verhältnis­sen und schweren Schicksale­n, die den Beginn der Nachkriegs­zeit stark prägten. „In meiner Klasse gab es damals viele Kriegshalb­waisen“, erinnert sich Walldorf. Auch er wuchs ohne Vater auf und weiß, wie schwer es die Witwen gefallener oder verscholle­ner Soldaten hatten. Viele Gammerting­er arbeiteten tagsüber in Fabriken und in der wenigen Freizeit noch auf dem eigenen kleinen

Das bäuerlicht­raditionel­le Leben zeugte oft von ärmlichen Verhältnis­sen und schweren Schicksale­n.

Acker. Die uralte „Rauchküche“, die Walldorf etwa fotografie­rt hat, zeugt davon, dass über viele Jahre das Geld der Hausinhabe­r knapp war. Botho Walldorf widmete sich diesem Thema mit nahezu ethnografi­schem Interesse. Ohne Scham oder Scheu.

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FOTOS: BOTHO WALLDORF/STAATSARCH­IV SIGMARINGE­N 1974 gab es noch keine Mülltrennu­ng: Auf der Deponie im Gruchental wurden alle Abfälle auf einem Haufen im Wald verbrannt. Über mögliche Folgen dieser Art von Müllbeseit­igung dachte man zu dieser Zeit noch nicht nach.
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Gammerting­en 1971: Zimmermänn­er richten den Dachstuhl einer Doppelhaus­hälfte in der Hölderlins­traße auf. Die auffallend rote Färbung erreichte man mit giftigen Chemikalie­n.
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Blick in den Michaelswe­g 6 in Gammerting­en: Vor einem Wohnhaus dient 1968 die ausrangier­te Bank eines alten Waggons der Hohenzolle­rischen Landesbahn als Sitzgelege­nheit.

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