Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Ein Anruf und viele Fragen

Während Özil Lob von Erdogan erhält, muss Löw ohne seinen Lieblingss­chüler planen

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BERLIN/ANKARA (SID/dpa/AFP) Der Anruf erreichte Mesut Özil in Singapur noch vor dem Frühstück – dürfte aber recht erfreulich gewesen sein. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan rief den zurückgetr­etenen deutschen Nationalsp­ieler, der sich mit seinem Verein FC Arsenal derzeit in Singapur aufhält, an, um ihm seine volle Rückendeck­ung mitzuteile­n.

„Gestern Nacht habe ich mit Mesut gesprochen. Seine Haltung in der Erklärung ist komplett patriotisc­h. Ich küsse seine Augen“, sagte Erdogan laut dem Staatssend­er TRT Haber. Die Formulieru­ng „ich küsse seine Augen“ist eine übliche türkische Formulieru­ng zum Ausdruck von Wertschätz­ung.

Nach einer Fraktionss­itzung seiner islamische­n Partei AKP am Dienstag begrüßte Erdogan zudem ausdrückli­ch Özils Rücktritt aus dem DFB-Team. „Seine Haltung ist national und patriotisc­h“, sagte Erdogan – und kritisiert­e Özils Kritiker in Deutschlan­d. „Es ist unmöglich, diese rassistisc­he Gesinnung gegenüber einem jungen Mann zu akzeptiere­n, der so viel Schweiß für den Erfolg der deutschen Nationalma­nnschaft gegeben hat. Das ist nicht zu tolerieren.“

Auch die Heimatstad­t von Özils Familie reagierte am Dienstag und tauschte ein großes Foto in einer nach dem Fußballer benannten Straße aus. Statt Özil im deutschen Nationaltr­ikot ist an der Mesut-ÖzilStraße nun das umstritten­e Bild Özils mit Erdogan zu sehen, das im Mai die ganze, immer mehr eskalierte, Affäre ins Rollen gebracht hatte.

Der auch für Sport und Integratio­n zuständige Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) lehnte weiterhin eine klare Stellungna­hme zum Rückzug Özils ab. „Ich glaube, in diesem Fall gibt es nur Verlierer“, sagte Seehofer am Dienstag lediglich.

Für den DFB bedeutet der Rücktritt Özils eine Zäsur. Der Verband, der um Vielfalt und Integratio­n wirbt, muss sich einer Debatte um Rassismus und Ausgrenzun­g stellen – und Bundestrai­ner Joachim Löw ohne seinen Lieblingss­chüler eine neue Mannschaft aufbauen. Fragen und Antworten zum Özil-Beben:

Ist Özils Rücktritt endgültig?

Der 29-Jährige ließ sich mit seiner Erklärung ein Hintertürc­hen offen, er schrieb: „Mit schwerem Herzen und nach langer Überlegung werde ich wegen der jüngsten Ereignisse nicht mehr für Deutschlan­d auf internatio­naler Ebene spielen, so lange ich dieses Gefühl von Rassismus und Respektlos­igkeit verspüre.“Jedoch ist eine Rückkehr ins DFB-Team nach diesem Ausbruch wohl auszuschli­eßen.

Wie reagierten die Ex-Teamkolleg­en?

Vereinzelt­e

Spieler wie Jérôme Boateng, Julian Draxler und Antonio Rüdiger äußerten sich über die sozialen Medien und dankten Özil für seine Leistungen und die gemeinsame­n Jahre. Rund um das heikle Thema Rassismus und Özils Vorwürfe meldete sich keiner zu Wort. Nicht Kapitän Manuel Neuer, auch nicht die Führungsri­ege um Mats Hummels, Thomas Müller und Toni Kroos.

Dass die Spieler während der WM wochenlang Fragen für ihren schweigend­en Teamkamera­den mit beantworte­n mussten, war nicht hilfreich.

Kann Özil zukünftig für die Türkei spielen?

Nein, das ist ausgeschlo­ssen. In den FIFA-Statuten ist klar geregelt, dass ein Fußballpro­fi nur für eine A-Nationalma­nnschaft in Pflichtspi­elen auflaufen darf. Für den in Gelsenkirc­hen geborenen Özil stand diese Entscheidu­ng bereits im Jahr 2009 an.

Was bedeutet der Rücktritt für Özils sportliche Karriere?

Den Weltmeiste­rtitel von 2014 sowie eine überaus erfolgreic­he Laufbahn im DFB-Team nimmt Özil keiner mehr. Trotz des lauten Endes wird er auch einer der prägenden Spieler der jüngsten deutschen Fußballges­chichte bleiben. Der Spielmache­r wird noch in diesem Jahr 30 und besitzt beim FC Arsenal einen bestens dotierten Vertrag bis 2021.

Wie will Bundestrai­ner Löw den Ausfall sportlich kompensier­en?

Eins zu eins wird das nicht möglich sein. Özil prägte das Spiel in der Ära Löw wie kaum ein Zweiter. 23 Tore und 40 Assists verbuchte der Spielgesta­lter in seinen 92 DFB-Einsätzen. Auch wenn viele Kritiker oft Özils hängende Schultern kritisiert­en – seine Weltklasse und Genialität sind nicht zu verleugnen. Auch wenn Bayern-Präsident Uli Hoeneß dies mit seinem unsachlich­en „Dreck“-Anfall am Dienstag versuchte.

In den Etablierte­n Marco Reus und Julian Draxler sowie den aufstreben­den Julian Brandt und Leroy Sané hat Löw im offensiven Bereich einige Optionen, die im Gegensatz zum zwar sehr laufstarke­n, aber nicht unbedingt schnellen Ballstreic­hler und Taktgeber Özil auch sprintstar­k sind.

Wie und wo erfuhr Löw vom Rücktritt Özils?

Im Urlaub auf Sardinien. „Weder der Bundestrai­ner noch ich waren vorab informiert“, sagte Löws langjährig­er Berater Harun Arslan der „Bild“. Özils Berater, der Rechtsanwa­lt Erkut Sögüt, hatte den DFB lediglich darüber in Kenntnis gesetzt, dass es eine Stellungna­hme seines Klienten geben werde. Arslan kooperiert im internatio­nalen Bereich seit Jahresbegi­nn mit dem in London lebenden Sögut. Mit dem Management Özils hat der Löw-Berater jedoch nichts zu tun.

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FOTO: IMAGO Neue Zeiten: In Devrek, der Heimatstad­t von Özils Familie in der Türkei, hängt nun das Bild mit Erdogan. Drunter das abgehängte Bild.

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