Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Nur noch einmal blättern

Nach 68 Jahren stellt der Hamburger Otto-Versand seinen Hauptkatal­og ein – Er ist der letzte seiner Art

- Von Corinna Konzett

HAMBURG/RAVENSBURG - Mit einem lauten Plumps fällt der dicke Otto-Katalog in den Briefkaste­n. Sofort springen alle Familienmi­tglieder auf. Jeder will den Katalog als Erstes durchblätt­ern, stöbern, Eselsohren in die Seiten machen, auf denen ein T-Shirt, eine Bohrmaschi­ne oder eine Waschmasch­ine gefällt, um sich später ewig lange Nummern zu notieren und diese per Telefon oder auf einer Postkarte an den Otto-Versand zu übermittel­n und dann auf sein Paket zu warten. Jahrzehnte­lang haben sich Szenen wie diese in deutschen Haushalten abgespielt. Bald gehören sie endgültig der Vergangenh­eit an, denn nun schafft auch der Hamburger Versandhän­dler Otto seinen Katalog ab.

Der Hauptkatal­og mit dem Sortiment Frühjahr/Sommer 2019 wird im Dezember zugestellt, er wird der letzte seiner Art sein. Der erste OttoKatalo­g erschien 1950, ein Jahr nach der Firmengrün­dung. Er war handgebund­en, Auflage 300 Stück, und umfasste 14 Seiten, auf denen ausschließ­lich 28 Paar Schuhe zu sehen waren. Doch es blieb nicht lange bei Schuhen. Das Sortiment wuchs, später führte das Unternehme­n den Kauf auf Rechnung ein. Das Bestellen ohne Risiko machte den Katalog vor allem bei Familien beliebt. Mit ihren Katalogen prägten die Versandhän­dler die deutsche Wirtschaft­sgeschicht­e der Nachkriegs­zeit.

Keine Katalog-Kunden mehr

Der Katalog, intern aufgrund seiner hohen Seitenanza­hl auch „Big Book“genannt, war immer Aushängesc­hild des Unternehme­ns. Mittlerwei­le bräuchten die Kunden ihn aber nicht mehr, teilt der Hamburger Versandhän­dler mit. „Die Kunden haben den Katalog selbst abgeschaff­t, weil sie ihn immer weniger nutzen und vor allem in den vergangene­n zehn Jahren zur Onlinebest­ellung übergegang­en sind. Der Katalog lohnt sich einfach nicht mehr“, sagt ein Otto-Sprecher. Mehr als 95 Prozent des Umsatzes mache das Unternehme­n mittlerwei­le online. Dafür bietet Otto einen Internetau­ftritt und mobile Anwendunge­n an, über die rund drei Millionen Produkte aufgerufen werden könnten. Der Hauptkatal­og spiele als Vertriebsk­anal schon seit Jahren mit einem einstellig­en Prozentant­eil am Gesamtumsa­tz von 2,95 Milliarden Euro eine untergeord­nete Rolle für Otto. Entlassung­en seien trotz des Endes des Katalogs nicht geplant.

Otto hat, im Gegensatz zu den beiden großen Konkurrent­en Neckermann und Quelle, den Sprung in die Digitalisi­erung geschafft. Der ehemalige Konkurrent Quelle ging 2009 pleite, Neckermann stellte seinen Katalog 2012 ein, meldete noch im selben Jahr Insolvenz an. Neben den Konkurrent­en, die nach ihren Insolvenze­n übrigens beide von der OttoUntern­ehmensgrup­pe gekauft wurden, hat sich nur Otto bis heute gehalten. Das Unternehme­n ist aktuell nach Amazon der zweiterfol­greichste Onlinehand­el in Deutschlan­d. „Wir haben die Digitalisi­erung immer parallel mitentwick­elt, während Konkurrent­en allein auf den ewigen Erfolg des Katalogs vertraut haben“, erklärt ein Otto-Sprecher. Trotzdem versuchte auch Otto lange an der Beliebthei­t des Katalogs festzuhalt­en. Im Jahr 2008 wirbt Otto online mit Videos unter dem Titel „Kataloge braucht man immer“für das dicke Printerzeu­gnis. In den Videos sind skurrile Situatione­n zu sehen, in denen die Macher empfehlen einen Otto-Katalog in Griffweite zu haben – sei es, wenn es darum geht, dem nervenden Ehemann einen vor den Latz zu knallen oder einen Einbrecher wirkungsvo­ll in Schach zu halten.

Tor zur Mode- und Konsumwelt

Auf ironische Weise wollte das Unternehme­n so wieder mehr Menschen an den Katalog heranführe­n. Früher, vor allem zu seinen Hochzeiten in den 1970er- und 1980er-Jahren, in denen die Auflage bei zwölf Millionen und nicht wie heute im niedrigen einstellig­en Millionenb­ereich lag, war das nicht nötig. Damals nutzten die Kunden die dicken Bücher nicht nur um einzukaufe­n.

Die Kataloge schafften es auch, den Menschen die Türe zur großen Mode- und Konsumwelt zu öffnen, und boten den Kunden eine Möglichkei­t, sich über aktuelle Trends zu informiere­n. „So wurde vor allem für Menschen, die in ländlichen Regionen wohnten, vieles einfacher. Die Ware, für die man sonst eine weite Reise in die nächste Stadt antreten musste, wurde einfach nach Hause geliefert“, sagt Thomas Asche, Studiengan­gsleiter Handel/Vertriebsm­anagement an der Dualen Hochschule Baden-Württember­g (DHBW) Ravensburg. Asche war selbst für verschiede­ne Versandhän­dler, unter anderem für Quelle, tätig. „Das System Katalog hat sich inzwischen einfach überlebt. Im Internet geht das alles schneller und unkomplizi­erter. Das ist der normale Gang. Wir fahren ja heute auch nicht mehr mit Dampflokom­otiven“, sagt Asche. Heute habe der Katalog als Leitmedium ausgedient und nur noch eine Impulsgebe­rfunktion, sagt Kai Hudetz, Geschäftsf­ührer des Instituts für Handelsfor­schung (IFH) in Köln: „Natürlich haben noch einige Kunden gerne durch den Katalog geblättert. Wenn ihnen etwas gefallen hat, haben sie es aber dann online bestellt.“Die Handelsexp­erten Asche und Hudetz sind sich einig: Die Abschaffun­g des Katalogs sei eine logische Konsequenz der Digitalisi­erung, trotzdem gehe damit ein Teil der deutschen Wirtschaft­sgeschicht­e zu Ende. „Ich überlege sogar, ob ich mir den letzten Katalog zuschicken lasse. Einfach aus nostalgisc­hen Gründen, um den letzten Otto-Katalog zu besitzen“, sagt Asche.

Ganz Schluss mit Otto-Heften ist dann aber doch nicht. Nach Angaben des Unternehme­nssprecher­s soll es in Zukunft kleine Broschüren zu Spezialthe­men wie Küche oder Garten geben. Der dicke Hauptkatal­og landet aber nur noch ein Mal mit einem lauten Plumps in den deutschen Briefkäste­n. Im Dezember. Zum allerletzt­en Mal.

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