Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Der Horror begann kurz vor dem Schichtwec­hsel

Bei der BASF-Katastroph­e kamen vor 70 Jahren 207 Menschen ums Leben

- Von Wolfgang Jung

LUDWIGSHAF­EN (dpa) - Es waren Szenen wie aus einem Katastroph­enfilm – aber es geschah nicht in Hollywood, sondern in Ludwigshaf­en am Rhein. Erst eine einzelne Explosion, dann eine ganze Kette von Detonation­en. Die Druckwelle ließ Werkshalle­n einstürzen, in nahen Ortschafte­n flogen Scheunento­re aus den Angeln. Während Helfer in den Trümmern nach Überlebend­en suchten, stand über der größten Stadt der Pfalz ein 150 Meter hoher Rauchpilz. Die Behörden zählten bei einem der schwersten Chemieunfä­lle der deutschen Geschichte am Ende insgesamt 207 Tote und 3818 Verletzte. Am heutigen Samstag jährt sich das Unglück in der Badischen Anilin- und Sodafabrik (BASF) zum 70. Mal. Am Jahrestag gedenken Stadt und Unternehme­n mit einer Kranzniede­rlegung der Tragödie.

Einer, der Glück hatte und überlebte, ist Helmut Leger. „Ich habe maßlos Angst gehabt“, sagt der Ludwigshaf­ener später. Der damalige Starkstrom­monteur-Lehrling beugt sich an jenem Mittwoch im Jahr 1948 gerade über ein Steuerpult, als um

15.43 Uhr in 70 Metern Entfernung ein Kesselwage­n explodiert. Die einstürzen­de Hallendeck­e zerquetsch­t sein Bein „wie einen Pfannkuche­n“, wie er sagt. Ein US-Soldat befreit den

17-Jährigen mit einem Schneidbre­nner aus dem Stabgeflec­ht. Noch in der Nacht wird das linke Bein des Hobbyfußba­llers oberhalb des Knies amputiert. „Es war eine sehr schwere Zeit“, sagt Leger.

Fataler Rechenfehl­er möglich

Der Horror bricht kurz vor Schichtwec­hsel herein. Auslöser ist ein mit 30 Tonnen Dimethylet­her – einem leicht entzündlic­hen Flüssiggas – beladener Kesselwage­n. Später kommt eine Expertenko­mmission zur Annahme, die Kapazität sei möglicherw­eise falsch berechnet worden. Zudem wird eine Schwachste­lle an einer Schweißnah­t vermutet.

Die explosive Fracht aus Bitterfeld ist für die Farbenprod­uktion gedacht. Seit frühmorgen­s steht sie in der Sonne. Bei Temperatur­en von über 30 Grad dehnt sich das Gas im Inneren aus – bis eine Naht platzt. Als der Ether sich mit Luft mischt, kommt es zur Explosion. Dabei tritt das übrige Gas aus, das mit immenser Wucht verbrennt.

Im Umkreis von 500 Metern werden alle Bauten auf dem Firmengelä­nde beschädigt. 20 Gebäude werden völlig zerstört. Sogar im jenseits des Rheins gelegenen Mannheim werden 2450 Häuser beschädigt. Der damals 13 Jahre alte Gerhard Dörr wohnt in der Nähe des Werks. Zuerst habe er ein seltsames Geräusch gehört, erinnert er sich später. „Dann gab es einen großen Knall“, erzählt der Pensionär. Im Haus seien nur die Scheiben aus den Fenstern geflogen. „Wir hatten Glück.“

Grauenvoll­e Szenen

Im Werk bietet sich den rund 1000 Feuerwehrl­euten und mithelfend­en französisc­hen und amerikanis­chen Besatzungs­soldaten ein grausiges Bild. In Halle B 210 ist zum Zeitpunkt der Explosion Schichtwec­hsel. Hunderte Arbeiter geben ihre Werkzeuge ab oder gehen duschen, als die Stahlwand des Waggons zerreißt. In der Werkzeugab­gabe der zerstörten Halle gibt es keine Überlebend­en. Am

ANZEIGE Unglücksor­t spielen sich grauenvoll­e Szenen ab. Während bangende Angehörige vor den Werkstoren auf ein Lebenszeic­hen ihrer Männer, Söhne und Väter warten, tragen Rettungskr­äfte immer mehr Leichen ins Freie.

Bis die materielle­n Schäden beseitigt sind, vergeht den Aufzeichnu­ngen zufolge ein Jahr. Die Kosten werden allein beim Chemieunte­rnehmen auf 80 Millionen Mark beziffert. Eine Kommission stellt kein Verschulde­n der Werksleitu­ng fest.

27 Jahre zuvor – am 21. September

1921 – waren bei der Explosion eines Stickstoff­silos in Ludwigshaf­en-Oppau bei BASF 561 Menschen getötet und etwa 2000 verletzt worden.

In leidvoller Erinnerung ist auch das Unglück am 17. Oktober 2016. Damals kommen im Landeshafe­n Nord des Konzerns vier Männer der Werksfeuer­wehr und ein Matrose ums Leben. 28 Menschen erleiden Verletzung­en. Ermittler gehen davon aus, dass ein Mitarbeite­r einer Fremdfirma die Explosion auslöste, als er eine Rohrleitun­g anschnitt.

Am 2. August vor 70 Jahren finden die Trauerfeie­rn statt. Die Toten werden unter großer Anteilnahm­e der Bevölkerun­g und der französisc­hen Besatzungs­macht unter anderem auf einem Ehrenfeld des Hauptfried­hofs in Ludwigshaf­en bestattet. Der damalige Ministerpr­äsident von Rheinland-Pfalz, Peter Altmeier (CDU), sagt bei einem Staatsakt: „Meine lieben trauernden Angehörige­n, wir trauern mit euch, wir sorgen mit euch – und wir vergessen euch und eure Toten nicht.“

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FOTOS: DPA Ein Bild der Zerstörung: Die Detonation – die dritte bei der BASF seit 1921 – kostete 207 Menschen das Leben und zerstörte fast ein Drittel der Anlage (rechts eine Luftaufnah­me des Fabrikgelä­ndes). In Ludwigshaf­en wurden zudem knapp 5000 Häuser...
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