Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Vom Bodensee auf den Kilimandsc­haro

Immer mehr Menschen wollen das Dach Afrikas erklimmen – Eine Lindauerin hat den harten Aufstieg gewagt

- Von Luisa Willmann

Eis in Afrika. Felsige Mondlandsc­haft. 5600 Höhenmeter. Mein Herz klopft, Schweiß steht auf meiner Stirn. Mein rechter Fuß landet auf Geröll, dann der linke. Rechts, links, rechts, links. Im Zeitlupent­empo kämpfe ich mich hinauf. „Wie lange noch?“, frage ich meinen Guide Msafiri. Der kräftige Mann mit dem breiten Mund und dem roten Kopftuch lächelt. „40 Minuten.“Noch 295 Höhenmeter fast senkrecht bergauf. Hoch über mir sehe ich die Eiskappe des Kilimandsc­haros, den Gipfel des höchsten Bergmassiv­s in Afrika.

Mehr als 30 000 Menschen besteigen jährlich den Kilimandsc­haro im Nordosten Tansanias. Das Dach Afrikas, mit 5895 Metern der höchste frei stehende Berg der Welt, einer der Seven Summits, der aus drei erloschene­n Vulkanen besteht: Mawenzi, Shira und dem Kibo. Ich bin Lindauerin. Kenne das Allgäu, die Alpen, den Pfänder mit 1062 Höhenmeter­n, das Nebelhorn mit 2224 Höhenmeter­n. Doch die Höhe des Kilimandsc­haros fordert. Manchmal auch Todesopfer. Mit guter Kondition, aber ohne spezielles Training habe ich mich an den Aufstieg gemacht. Auf der Suche nach meinen körperlich­en Grenzen und nach der Magie einer einzigarti­gen Landschaft.

Mit Koch und Kellner

Ich mache die Expedition gemeinsam mit dem Finnen Kim. Er ist Profi-Hockeyspie­ler und mit HightechAu­srüstung ausgestatt­et. „Let’s go!“, sagt er grinsend. Guide Msafiri leitet unser neunköpfig­es Team: Guide Bakari, Koch Heaven, Kellner Michael und die fünf Träger Godfrey, Elias, Senkundo, Filbert und Hajji. Wir haben uns für die unbekannte­re Lemosho Route entschiede­n, die Route für Abenteurer: schlafen in Zelten, tolle Aussichten, wenig Menschen. Wir werden eine Wegstrecke von

70 Kilometern zurücklege­n, fünf Vegetation­szonen durchquere­n und bis auf 5895 Meter steigen.

2100 Meter, Lemosho Gate. Wir registrier­en uns im Etappenbuc­h für die siebentägi­ge Tour. Ein Mann notiert mit ernster Miene das Gewicht unserer Ausrüstung. Jeder Träger darf maximal 20 Kilo schleppen. Kim und ich tragen unsere Tagesrucks­äcke mit dem Nötigsten. Zuerst geht es durch den dichten Regenwald. Schwarz-weiße Stummelaff­en klettern auf den abgestorbe­nen, mit Moos bedeckten Bäumen herum. Unsere Expedition gleicht noch einem Spaziergan­g. „Pole, pole“– „Langsam, langsam“, rät Msafiri auf Suaheli.

2650 Meter. Abends sitzen wir in einem Zelt, das unser Team aufgebaut hat. Der junge Kellner Michael serviert Paprikasüp­pchen, Rotbarschf­ilet auf mediterran­em Gemüse mit Salzkartof­feln und Salat, zum Abschluss bringt er tropische Früchte. Und ich dachte, der Aufstieg zum Gipfel des Kilimandsc­haros wird ein Abenteuer!

Zweiter Tag. Nach dem Frühstück wandern wir durch das Moorland. Erikabäume bilden eine Allee im Nebelland. Sie ragen in die Höhe, ihre Fahnen nach unten, als wollten sie sich nicht zwischen Erde und Universum entscheide­n. Es riecht nach wilden Gräsern. Endlich gewinnt die Sonne und wir optisch an Höhe. Als wir auf dem Bergpfad um die Kurve

Guide Msafiri war schon 327-mal auf dem Kilimandsc­haro

biegen, sehen wir ihn, den Kilimandsc­haro. Der riesige Vulkan ragt aus der afrikanisc­hen Steppe empor. „Seit 24 Jahren steige ich zum Gipfel“, erzählt Msafiri im Gehen. „Ich war schon 327-mal auf dem Kilimandsc­haro.“Dreihunder­tsiebenund­zwanzigmal! Hunderte Menschen hat er auf den Gipfel geführt. Für seine Schützling­e ist der Aufstieg jeweils einmalig – once in a lifetime!

Um Guide zu werden, hat er als Träger begonnen, Englisch gelernt und eine Ausbildung gemacht. Seit 2001 stellt Msafiri als Lead Guide die Crew zusammen und ist für die Planung und den Aufstieg verantwort­lich. „Für mich ist es einfach ein Job“, sagt Msafiri umgeben von der weiten kargen Landschaft. „Ich muss meine Familie versorgen. Ich habe drei Söhne und eine Tochter.“Doch in unbeobacht­eten Momenten blickt er andächtig zum Kilimandsc­haro, schließt die Augen und holt tief Luft. Ich ahne: Es ist viel mehr als nur ein Job. Msafiri liebt diesen Berg. War er schon mit seinen Kindern oben? „Nein, die mögen lieber Safaris.“

3900 Meter. Gegen Ende des dritten Tages erreichen wir das Shira Camp 2. Wir haben heute 1000 Höhenmeter gemacht. Höhenmediz­iner empfehlen 300. Die Körperreak­tion ist unkalkulie­rbar. Bis zu drei Viertel aller Bergsteige­r sind von der Höhenkrank­heit betroffen. Selbst manche Spitzenath­leten schaffen es nicht auf den Kilimandsc­haro. Kim, der Finne, klagt über Kopfschmer­zen. Auch mein Kopf dröhnt.

Nach einer eisigen Nacht verlassen wir das Camp um 9.30 Uhr und wandern weiter im kühlen Wind. Mount Meru, der zweithöchs­te Berg Afrikas, zeigt uns in der Ferne seinen Gipfel. Am Nachmittag des dritten Tages trifft unsere Lemosho Route auf die bekanntere Machame Route. Und plötzlich sind überall Menschen: Asiaten, die erstmals bergsteige­n, Familien, Pärchen. Alt, jung, dünn, dick, trainiert, schlapp – alle wollen auf den Gipfel. Wir überholen eine junge Frau, die weinend auf einem Stein sitzt. Ihre Beine zittern. Ihr Gesicht ist rot vor Erschöpfun­g. Ich schätze sie auf 25 Jahre. Mein Alter. Der Grat zwischen Herausford­erung und Kollaps ist schmal. Wir wandern weiter in eine Schlucht durch ein Meer aus Riesen-Senezien.

3950 Meter. Wir erreichen das Barranco Camp. Unberührte Natur, ungestörte Wildnis? Fehlanzeig­e. In einer bunten Zeltlandsc­haft tragen Guides und Köche Uniformen, gleiche Sporthose, gleiche Regenjacke, gleiche Thermomütz­e. Überall Träger in zerfetzten Turnschuhe­n und Jeans. Sie schleppen große Körbe auf ihren Köpfen, riesige Packsäcke, Rucksäcke, Tische, Stühle. Essenszelt­e werden aufgebaut. Eine Familie sitzt an einem Tisch und spielt Karten. In der Mitte eine Schüssel Popcorn. Cola für die Kinder, Tee für die Eltern. Gipfelkomm­erz.

Der Tourismus ist für die Flora und Fauna des Kilimandsc­haros zur Belastung geworden. Die jährlich

30 000 Gipfelstür­mer hinterlass­en Müll: Energierie­gel, Plastikfla­schen und Toilettenp­apier. Sie pflücken Wildblumen und gefährden den Artenschut­z. Zigaretten haben schon Waldbrände ausgelöst. Wegen der steigenden Zahl der Wanderer wachsen die Camps. Immer mehr Plumpsklos bilden eine Herausford­erung im steinigen Gebiet, indem niedrige Temperatur­en die Kompostier­ung verlangsam­en. Oft nutzen die Bergsteige­r vorhandene Wege nicht. Erosionsri­nnen bilden sich und zerstören den Boden. Ein weiteres Problem ist die Trinkwasse­rverschmut­zung: Viele Bergsteige­r halten nicht genügend Abstand zu den Wasserquel­len.

Und dennoch: „Ohne die Besucher könnten wir einpacken“, sagt Msafiri und steckt eine zurückgela­ssene Packung eines Proteinrie­gels ein. „Ohne euch hätten meine Kinder keine Zukunft.“Die Arbeitslos­igkeit in Tansania liegt bei 13 Prozent. Das durchschni­ttliche Einkommen bei

790 Euro pro Monat. Der Kilimandsc­haro wird als Goldgrube Tansanias bezeichnet. Die Guides erhalten

18 Euro am Tag von ihrem Auftraggeb­er und zusätzlich etwa 20 bis 25 Euro Trinkgeld pro Tag: Ein kleines Vermögen in Afrika. Zusätzlich hinterlass­en ihnen die Bergsteige­r oft teures Equipment.

Ich gehe ein paar Schritte durch das Barranco Camp, sehe zwei Guides eine beinahe regungslos­e Person stützen – die junge Frau mit den zitternden Beinen. Ihre Augen sind geschlosse­n, ihr Mund ist leicht geöffnet. Die Guides legen sie behutsam ins Zelt. Danach sehe ich sie nie wieder.

Die Luft wird dünn

3970 Meter, mittags am vierten Tag. Noch fast 2000 Meter bis zum Gipfel. „Jambo?“– „Alles gut?“, fragt mich Msafiri und springt mit seinem schweren Rucksack einen Felsen hinauf. „Poa“– „Cool“, antworte ich leicht angeschlag­en. Msafiri freut sich: „Statt übermorgen besteigen wir schon morgen den Gipfel. Das Wetter wird umschlagen.“Kim ist gerade mit kleinen Augen vom Plumpsklo zurückgeke­hrt: „Was ist mit der Akklimatis­ation?“, fragt er.

4673 Meter. Barafu Camp. In der Nacht brechen wir auf. Die Sterne leuchten intensiv. Wir bewältigen mit der Stirnlampe die Felsen. Ich trage drei Hosen und fünf Schichten Oberteile – wegen der Kälte. Dann wird der Himmel lila, schließlic­h gelb-rötlich über dem Wolkenmeer. Die Mawenzi Spitze sticht hervor. Ungefähr jetzt überschrei­ten wir die

5000-Meter-Grenze. Zum ersten Mal gebe ich meinen Tagesrucks­ack an die Guides ab. Kaum Luft zum Atmen. Mir ist schlecht, aber ich kann mich nicht übergeben. Was zur Hölle mache ich hier oben?

5500 Meter. Der Sauerstoff­gehalt der Luft ist nur noch halb so hoch wie auf Meereshöhe. Ich blicke zu Msafiri: „Wie lange noch?“Er sieht mir in die Augen, sagt ruhig „40 Minuten.“Noch 40 Minuten, die über den Erfolg unserer Expedition entscheide­n. Msafiri setzt einen Fuß nach vorne, ich setze einen Fuß nach vorne. Dann sind plötzlich alle Gedanken weg. Wir schleichen den schmalen Weg hinauf. Links der mächtige Rebmann-Gletscher im tropischen Afrika, rechts der Kibo-Krater. Eine Mondlandsc­haft. Und dann – nach fünf Tagen, 3800 Höhenmeter­n und

50 Kilometern entdecke ich das Gipfelschi­ld am Ende des Kraters.

5895 Meter. Ich habe es geschafft: der höchste Berg Afrikas! Ich falle in Msafiris Arme. Wie betrunken tanze ich auf dem Gipfel, strecke meine Stöcke zum blauen Himmel, bin voller Endorphine. Alle Anstrengun­gen sind wie weggeblase­n. Höhenrausc­h. Und auf einmal macht alles Sinn. Der harte Weg zum Gipfel. Die kalten Nächte. Die Übelkeit, die Erschöpfun­g, die Wut. Ich stehe auf dem Dach Afrikas. Möchte mich für immer so fühlen, für immer hierbleibe­n.

Doch nach nicht einmal zehn Minuten auf dem Gipfel sagt Msafiri: „Wir müssen los.“Als wir mit dem Abstieg beginnen, umschlingt Nebel den Kilimandsc­haro.

Seit 24 Jahren steige ich zum Gipfel.

 ?? FOTOS: WILLMANN ?? Geschafft! Luisa hat den Gipfel des Kilimandsc­haros erreicht – nach fünf Tagen und 3800 Höhenmeter­n.
FOTOS: WILLMANN Geschafft! Luisa hat den Gipfel des Kilimandsc­haros erreicht – nach fünf Tagen und 3800 Höhenmeter­n.
 ??  ?? Unberührte Natur? Fehlanzeig­e. Das Barranco Camp entpuppt sich als bunte Zeltlandsc­haft. Auch der Müll ist inzwischen ein Problem.
Unberührte Natur? Fehlanzeig­e. Das Barranco Camp entpuppt sich als bunte Zeltlandsc­haft. Auch der Müll ist inzwischen ein Problem.
 ?? FOTO: COLOURBOX ?? Mächtig ragt der Kilimandsc­haro aus der Steppe auf, zu bewundern ist der höchste Berg Afrikas von Tansania wie von Kenia aus.
FOTO: COLOURBOX Mächtig ragt der Kilimandsc­haro aus der Steppe auf, zu bewundern ist der höchste Berg Afrikas von Tansania wie von Kenia aus.
 ??  ?? Ohne sie geht nichts: Träger, die Zelte und Ausrüstung schleppen.
Ohne sie geht nichts: Träger, die Zelte und Ausrüstung schleppen.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany