Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Mehr als nur ein Lieblingsgetränk
Die Geschichte zeigt: Viele gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturgeschichtliche Entwicklungen wurden durch Bier beeinflusst
WEINGARTEN - Wenn der goldgelbe Gerstensaft in die Gläser oder Kehlen durstiger Menschen rinnt, dann stellt sich recht bald ein Gefühl der Zufriedenheit ein. Doch der Blick in die Geschichte, gerade in Oberschwaben, zeigt: Bier ist viel mehr als Alkohol, Genuss und Lebenslust. Die Geschichte des Bieres ist letztlich vor allem ein Teil der Geschichte der Menschheit. Ob Gesellschafts-, Verkehrs-, Agrar-, Klima-, Wirtschaftsoder Kulturgeschichte. Überspitzt könnte man sogar sagen, dass das Bier mitverantwortlich für die Bauernbefreiung im Jahr 1848 war. Heutzutage hat es das Bier sogar zu einem eigenen Feiertag gebracht: Der „Internationale Tag des Bieres“findet jährlich am ersten Freitag im August statt, also heute.
„Mit diesem Getränk kann man sehr viel über die Geschichte der Menschen erfahren“, sagt Dietmar Schiersner, Direktor des interdisziplinären Zentrums für Regionalität und Schulgeschichte an der Pädagogischen Hochschule Weingarten (PH). „So hängt beispielsweise das Wirtshaus als politischer Ort stark mit den alkoholischen Getränken zusammen.“Daher waren sie der Obrigkeit auch stets ein Dorn im Auge. Zunächst, weil die Bevölkerung dort zu viel Geld ausgab. In der Folge aber auch verstärkt, weil es ein Ort der Zusammenkunft war. So bildete das Gasthaus und damit – neben Wein und Branntwein – auch das Bier in Teilen den Nährboden für die Bauernbefreiung von 1848. In Gasthäusern kamen die Leute zusammen, tauschten sich aus und sponnen neue Ideen. „Der Alkohol lockert die Zunge und beflügelt manchmal auch den Geist. Da kann man fast von demokratischer Willensbildung sprechen“, sagt Schiersner mit einem Augenzwinkern. „Die Geschichte des Wirtshauses ist auch eine politische Geschichte der Demokratie.“
Und so traf die Bauernbefreiung besonders den Adel, auf den Schiersner einen Forschungsschwerpunkt legt. Hatte der Adel bisher konstant seine Pfründe von den Leibeigenen bekommen, musste er sich nach 1848 nach neuen Einkommensquellen umsehen. Neben der Forstwirtschaft – durch den bereits vorhandenen Grundbesitz – setzten viele Adelige auf die Argrarwirtschaft und das Gewerbe – und damit auch auf das Bierbrauen. Bis heute gibt es bekannte Brauereien, die einer Adelsfamilie entstammen, wie beispielsweise Fürstenberg. Dabei hatten die Adeligen im Vergleich zu den Bauern und Bürgern einen erheblichen Startvorteil. Schließlich mussten sich die Leibeigenen erst freikaufen.
Und genau dieses Geld konnte der Adel in seine „Unternehmen“investieren. Damit einher gingen auch technische Entwicklungen. So wurde in den folgenden Jahrzehnten beispielsweise die Kühlung verbessert. Doch auch die Bürger waren nicht untätig. „Man erkennt, dass man Probleme nur gemeinsam lösen kann. Viele oberschwäbische Brauereien schließen sich zusammen“, sagt Schiersner auch mit Blick auf das Monopol vieler Adelsbrauereien. Weil Fässer die einzige dauerhafte Aufbewahrungsmöglichkeit waren, gab es pro Ort beziehungsweise Wirtshaus meist nur eine Biersorte. Das änderte sich erst mit der Einführung der Flaschenbiere ums Jahr 1900. „Dadurch entstand die Möglichkeit, den Bierkonsum zu individualisieren. Die Mengen waren kleiner, länger haltbar und konnten auch zu Hause konsumiert werden. Das ist ja heute noch so“, sagt Schiersner mit Blick auf angestochene, große Fässer.
Aufgrund dieser Entwicklung stieg auch die Auswahl an Biersorten. Ohnehin gab es aufgrund der wenigen Vorschriften und der schwierigen Kontrolle selten ein einheitliches Bier – trotz der bayrischen Landesordnung von 1516, die heute umgangssprachlich als deutsches Reinheitsgebot gilt. Meist wurden wohl die klassischen Zutaten Gerste, Hopfen und Wasser zum Brauen verwendet. „Im 19. Jahrhundert wurde aber auch mit Reis und Mais experimentiert. Das hat aber keinen bahnbrechenden Absatz gefunden und wurde eingestellt“, erklärt der Historiker.
Die klassische Herstellung setzte sich durch – und wurde zu einer riesigen Erfolgsgeschichte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „boomte“das Bier, wie es Schiersner beschreibt. „Der damalige Bierkonsum war pro Kopf doppelt so hoch wie heute. Das ist die Zeit, in der Bier zum Nationalgetränk der Deutschen wurde und viele Biergärten entstanden.“Das belegen auch die Zahlen: Trank im Jahr 2016 jeder Deutsche durchschnittlich 104 Liter Bier, waren es 1872 noch 193 Liter pro Kopf – in Württemberg.
Aber die Geschichte des Bieres in Oberschwaben reicht natürlich viel weiter zurück. Allerdings ist die Quellenlage extrem schwierig. Das aufzuarbeiten, wäre extrem aufwendig und würde laut Schiersner für eine Vielzahl von Doktorarbeiten reichen. „Es gibt keine verschriftlichte Geschichte des Bieres und des Brauereiwesens in Oberschwaben. Die müsste erst noch geschrieben werden“, sagt er.
Auch ohne einschlägige Literatur ist klar, dass die Verschlechterung des Klimas im 16. Jahrhundert dem Weinanbau Probleme bereitete und den Brauereien sicherlich nicht schadete. Obwohl Wein weiterhin das Hauptgetränk der Menschen blieb, weist die Eröffnung einer Brauerei und Braugaststätte des Klosters Altdorf im Jahr 1771 auf einen
Dietmar Schiersner, Experte für Landeskunde von der PH Weingarten
gestiegenen Bierkonsum in dieser Zeit hin. Die Klosterbrauerei begann, auch für die Öffentlichkeit zu produzieren, was wiederum die Konkurrenz zu Schankstuben und Brauereien in Altdorf, dem frühen Weingarten, belebte. Schon für 1633 ist die Existenz einiger Herbergen belegt. Im Jahr 1868 wurde Weingarten dann Garnisonsstadt. „Das bedeutet natürlich, dass der Durst steigt“, sagt Schiersner. 30 Gasthäuser soll es damals gegeben haben. In Ravensburg waren es im Jahr 1862 stolze 17 Brauereien. Die Entwicklung des Bieres zum Massengetränk belegen auch Zahlen von 1913. In Weingarten gab es fünf Brauereien und mehr als 50 Gasthäuser.
Aber weil der Bierkonsum boomte und die Konkurrenz der Brauereien groß war, sank die Gewinnspanne. Nur bei großem Ausstoß lohnte sich das Brauen wirklich. Deswegen schlossen sich weitere Brauereien zusammen, andere verschwanden. Gab es 1875 insgesamt 2532 gewerbsmäßige Brauereien allein in Württemberg, waren es im Jahr 2017 in ganz Deutschland gerade mal noch
1492. Das reicht locker, um den Bedarf zu decken. „Die haben heute natürlich einen ganz anderen Ausstoß“, erklärt Schiersner und betont, dass die Zahlen aus dem 19. Jahrhundert über die Malzsteuer erhoben wurden und deswegen mit Vorsicht genossen werden müssten.
Etwas vertrauenswürdiger sind da schon die Zahlen zum Export. So entwickelte sich das oberschwäbische Bier in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts zu einem wahren Exportschlager. Zwischen 1828 und
1872 versechsfachten sich die Ausfuhrzahlen. Und das, obwohl die Bevölkerung längst nicht so schnell wuchs. Doch anscheinend muss die Qualität des oberschwäbischen, des bayrischen und fränkischen Bieres besonders gut gewesen sein. „Dass man überall, wo gesundes und wohl bekömmliches Bier gesucht werde, zu oberschwäbischem, Ulmer und Alb-, ja zu Münchener und Erlanger Bier greifen müsse“, heißt es im Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer Württemberg im Jahr
1860.
Gerade der Export in die Schweiz funktionierte über den Schifffahrtsweg sehr gut. Aber auch nach Hohenzollern – was auch als Export galt – wurde Bier verkauft. Auch daran wird deutlich, wie das Getränk Historikern als Anhaltspunkt dient, um verschiedene Bereiche der Vergangenheit zu erforschen. Ob Gesellschafts-, Verkehrs-, Agrar-, Klima-, Wirtschafts- oder Kulturgeschichte: „An diesem Alltagsgegenstand kann man ganz viel festmachen“, sagt Dietmar Schiersner. „Da tut sich in einem Fass Bier ein ganz breites Spektrum auf.“
„Da tut sich in einem Fass Bier ein ganz breites Spektrum auf.“