Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Zu schön, um gleich weiterzuziehen
Southampton hat deutlich mehr zu bieten als die Autobahn nach London
SOUTHAMPTON (dpa) - Mit mehr als 200 Schiffsanläufen und über 1,7 Millionen Passagieren im Jahr ist Southampton ein Magnet für Kreuzfahrtpassagiere. Viele steigen jedoch direkt in den Bus nach London. Mit ihm geht es von der englischen Südküste in zweieinhalb Stunden in die Hauptstadt – eng getaktet eine Handvoll Hotspots abhaken und ein Selfie vor dem Buckingham Palast. Das ist die eine Möglichkeit. Option Nummer 2: in Southampton bleiben und auf eigene Faust losziehen.
Zum Beispiel auf der nach dem berühmten Schiff „Queen Elizabeth II“benannten „QE2 Mile“mit schönen alten Fachwerkhäusern, die in Hafennähe beginnt und in die Fußgängerzone übergeht. Die Stadt, die einst vom Schiffsbau lebte, ist architektonisch gesehen ein charmantes Nebeneinander von exzentrischem Design und glanzvoller Kreuzfahrthistorie. Ragt hier das gerade fertiggestellte, gläserne Harbour Hotel wie eine überdimensional große Luxusjacht in das neue Hafenviertel Ocean Village – steht um die Ecke an der Canute Road eine Backsteinvilla. Sie beherbergte früher den Sitz der Reederei White Star Line. Dort heuerten im Frühjahr 1912 Offiziere, Heizer und Schiffsjungen für die Jungfernreise der Titanic an, berichtet der Historiker Jake Simpkin auf einem Stadtspaziergang.
Geschichte an jeder Ecke
Ein paar Schritte weiter am Jachthafen: die Pitcher & Piano Bar. Ein idealer Platz für einen Cocktail. Oder soll es ein klassischer Afternoon Tea mit Scones und Gurkensandwiches sein? Das Grand Café in einem ehemaligen Nobelhotel am Hafen versucht, mit pinkfarbenen Polstern an die Kreuzfahrthistorie und die goldenen 20erJahre anzuknüpfen.
Gut erhalten: The Grapes, der Pub, aus dem die Heizer Alfred, Tom und Bertram Slade am 10. April 1912 taumelten, als die Titanic-Schiffshörner das Ablegen ankündigten: Die Oxford Street ist ein beliebter Treffpunkt, wenn es darum geht, in Southampton preisgekrönte Küche (Oxford Brasserie), einen Treffpunkt mit Live-Konzerten unter einem zwölfarmigen Kronleuchter (Simons Bar & Restaurant) zu erleben oder bis spät in die Nacht Salsa zu tanzen (in der Medbar). Im Equinox Gentleman’s Refinery kann man sich vorher stilgerecht rasieren und frisieren lassen, was zu Zeiten der Slade brothers vermutlich erschwinglicher war als heute. Die Jungs haben damals in ihrem Rausch übrigens das Schiff verpasst – und seinen Untergang.
Man kann hier an jeder Ecke Geschichte erleben – eine Kirche aus dem elften Jahrhundert, einen Pub von 1220. Das hat für den US-Amerikaner Dan Umfleet und seine indische Frau Dishi den Ausschlag gegeben, sich ausgerechnet in Southampton niederzulassen. Beide wollten ihren Berater-Job an den Nagel hängen und hatten genug Enthusiasmus, wenige Schritte vom historischen Seefahrerheim entfernt ein winziges Kaffeehaus zu eröffnen: das inzwischen als bestes in ganz Hampshire ausgezeichnete The Docks Coffee House. Das Ehepaar beauftragte die Künstlerin Caroline Misselbrook, die eindrücklichsten historischen Hotspots Southamptons in einer handgemalten Karte an die Wand zu bringen.
Die gotische Pfarrkirche St. Michael von 1070 ist einen kurzen Spaziergang entfernt in der Altstadt zu finden – wie auch der sehenswerte Pub Duke of Wellington in einem historischen Fachwerkbau an der Ecke Bugle Street/Vyse Lane. Als ein gutes Real Ale empfehlen Victor und Lynn Taylor – wortkarger Wirt der eine, warmherzige Wirtin die andere – einhellig das in Southampton gebraute „Swordfish“. Eine dazu bestellte, äußerst schmackhafte Portion Fish & Chips ist eine gute Grundlage für weitere Aktivitäten.
Am Rande der Altstadt führt die High Street zum alten Stadttor, dem von den Normannen erbauten Bargate, und zu den begehbaren Resten von dem, was von der mittelalterlichen Stadtmauer und ihren Türmen nach der Bombardierung der Stadt während des Zweiten Weltkriegs stehengeblieben ist. Von oben schauen die Gäste heute bis hinüber zu einem der vier Terminals, wo die Kreuzfahrtschiffe festmachen.
Nicht nur für Kreuzfahrtgäste wurde die Shopping Mall Westquay auf dem Gelände der ehemaligen Kabelwerke Pirelli um einen spektakulären Glasbau der Londoner Architekten Acme Space erweitert: Es beherbergt 21 Restaurants und ein Multiplex-Kino. Hier treffen sich Familien und kleine Gruppen der rund 40 000 Studenten Southamptons.
Wem das zu viel Trubel ist, der setzt mit einer kleinen Fähre in 20 Minuten nach Hythe am Rande des New Forest über – was sich schon wegen der historischen Kleinbahn „Hythe Pier Train“mit den original erhaltenen Waggons von 1881 lohnt, die vom Fähranleger bis ins Stadtzentrum verkehrt. In Hythe starten verschiedene Busse in den Nationalpark New Forest mit alten Eichen, Mooren und Heidekrautfeldern, südwestlich von Southampton. Mitunter müssen die Fahrer unterwegs den Fuß vom Gaspedal nehmen: Wilde Ponys haben hier Vorrang.