Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Unterwegs auf den versteckten Seiten des Internets
Für manche ist das Darknet ein Raum für Verbrechen, für andere aber eine Lebensversicherung
RAVENSBURG - Auf den ersten Blick sieht in diesem Internetforum alles ganz normal aus: lustig zwinkernde Smileys und bunt leuchtende Nutzernamen über den Textbeiträgen. Doch die Themen sind alles andere als normal. Eines davon lautet: „Auf Flüchtlinge schießen“. Der Nutzer Alcaltel schreibt darin: „Hätte voll Lust, mich im Sommer in eine Hecke vor einem Flüchtlingsheim zu legen und die Flüchtlinge mit einem 24 Joule Luftgewehr abzuschießen. Was meint ihr?“
Der Chatraum befindet sich im Darknet, der oft als illegal bezeichneten Seite des Internets. Hier bekam der Amokläufer Serie von München seine Waffen und hier finden Verborgenes sich auch Warenräume für Drogen, Kinderpornografie oder gefälschte Pässe. Doch wie überall gibt es auch im Darknet dunkle und helle Seiten: „Das Darknet an sich ist nicht illegal. Nur, wenn ich darin zum Beispiel illegal Drogen oder Waffen anbiete, ist das strafbar“, sagt Sven Carlsen. Er ist Teamleiter in einem der Virenlabore von Avira in Tettnang. Carlsen und sein Chef Alexander Vukcevic, Direktor aller Virenlabore bei Avira, haben hin und wieder beruflich im Darknet zu tun. Dort entdecken sie beispielsweise Hinweise auf Schadsoftware, die Hacker gerade entwickeln, um gängige Computerprogramme zu kapern. Auch geklaute E-Mail-Adressen und Passwörter finden die Experten dort und warnen ihre Kunden, wenn sie mit solch gehackten E-Mail-Accounts zu tun haben.
Aber wie funktioniert das Darknet überhaupt? „Das Internet selbst kann man sich vorstellen wie einen Eisberg. Die Spitze ist das Netz, das jeder von uns benutzt“, erklärt Carlsen. Knapp unter der Oberfläche des Interneteisbergs liege das Deep Web: „Das sind beispielsweise Intranetseiten der Unternehmen. Also Seiten, die nur dann erreichbar sind, wenn man die genaue Adresse kennt“, sagt Carlsen. Die Unterseite des Eisbergs schließlich sei das Darknet. In diesem Teil des Internets befänden sich Seiten, die nur verschlüsselt zu erreichen sind, beispielsweise über ein „Tor“-Netzwerk, erklärt Carlsen.
Tor kann man sich einfach aus dem normalen Internet laden. Das Programm verschlüsselt dann die Anfragen. Das funktioniert ähnlich wie das Kinderspiel Stille Post: Ein Nutzer will auf eine bestimmte Internetseite zugreifen. Dazu muss er die Adresse der Seite kennen, denn im Darknet gibt es keine Suchmaschinen wie Google oder Bing. Er gibt also die Adresse im Tor-Browser ein. Der Computer verschlüsselt diese Anfrage und gibt sie an einen Knotenpunkt, also einen Server irgendwo auf der Welt weiter. Auch der leitet die Anfrage wieder verschlüsselt weiter, und erst der dritte Server entschlüsselt die Botschaft schließlich. Dann wird die Anfrage an den richtigen Server, auf dem sich die gewünschte Internetseite befindet, gestellt, sodass die Internetseite auf dem Computer, der die Anfrage gestellt hat, angezeigt wird. Das dauert einige Sekunden – im Internet eine Ewigkeit –, aber so kann am Ende nicht mehr nachvollzogen werden, von welchem Nutzer und von wo in der Welt die ursprüngliche Anfrage kam.
Wenn man als Nutzer aber selbst gerne wissen möchte, von welchem Land aus man gerade auf eine bestimmte Seite im Darknet zugreift, kann man sich das anzeigen lassen. Sven Carlsen führt das vor – und siehe da: „Im Moment sind wir in Quebec in Kanada.“
Weil die Server für diese Weiterleitungen, Ver- und Entschlüsselungen viel Speicherkapazität brauchen, wird das Tor-Netzwerk von einigen bekannten Namen unterstützt erklärt Vukcevic: „Unter anderem stellen Google oder auch die US-Regierung Server zur Verfügung.“Dies habe verschiedene Gründe, vermutet er. Einerseits seien die Regierungen in ihrer Geheimdienstarbeit auf funktionierende Verschlüsselung im Internet angewiesen. Andererseits: „Was man nicht verbietet, kann man besser im Auge behalten.“So könne man zwar nicht nachverfolgen, wer was im verschlüsselten Teil des Internets treibt, aber man wisse, was getrieben wird. „Wenn jemand im Darknet konkrete Anschlagspläne postet, dann kann man sich darauf vorbereiten. Die Nutzer kontrollierten sich aber auch gegenseitig: „Wenn da jemand etwas Anstößiges postet, dann ruft man auch mal bei der Polizei an“, sagt Vukcevic. So habe auch Avira einen direkten Draht zum Bundeskriminalamt.
Trotz der vielen illegalen Dinge, für die das Darknet benutzt werden kann, stehen Carlsen und Vukcevic ihm aber nicht ausschließlich negativ gegenüber: „Das Darknet ist besonders wichtig in Staaten, in denen die freie Meinungsäußerung eingeschränkt und das Internet kontrolliert ist“, sagt Vukcevic. Im Darknet gibt es daher auch Nachrichtenseiten, die unerwünschte Berichterstattung aus kontrollierten Ländern veröffentlichen. Eine davon ist die Seite „We fight censorship“. Auf den ersten Blick erinnert die Webpage an eine normale Nachrichtenseite. Und tatsächlich ist sie auch im normalen Internet zu erreichen. Ihre Inhalte bekommt die Seite aber vor allem von Nutzern aus dem Darknet. Wie die Macher von „We fight censorship“selbst angeben, werden auf der Seite explizit Inhalte veröffentlicht, die zuvor zensiert wurden oder dazu führten, dass der Autor der Inhalte im Gefängnis landete. So liest man dort beispielsweise von Verhaftungen in der Türkei oder von verfolgten Bloggern in Singapur.
Viel benutzt wurde das Darknet auch während des Arabischen Frühlings. Denn im Tor-Browser lassen sich soziale Medien wie Facebook und Twitter ebenfalls öffnen – nur eben verschlüsselt und unkontrolliert. So konnten sich Demonstranten in Ägypten oder Syrien sogar dann noch unbemerkt im Internet zu Protesten verabreden, als dieses schon von den Regierungen überwacht wurde.
Ahmad Alrifaee hat als Journalist in Syrien von diesen Protesten und dem anschließenden Krieg berichtet. Ohne das Darknet wäre das für ihn lebensgefährlich gewesen, sagt er. „Wenn ein Journalist in Syrien etwas über das Regime berichtet, was das Regime nicht mag, wird man vom Sicherheitsdienst festgenommen, gefoltert und getötet“, sagt Ahmad Alrifaee. Einigen seiner Freunde erging es so. Er selbst floh deshalb zuerst aus seiner Heimatstadt Hama in den Norden Syriens und später nach Deutschland, wo er jetzt an der Hamburg Media School studiert und arbeitet.
„Das Darknet fing in Syrien in der Realität an. Ich musste mich verkleiden und mein Gesicht verstecken, damit ich auf der Straße nicht erkannt und verfolgt wurde“, erzählt Alrifaee. Hatte er dann Bilder von Protesten und Krieg mit der Kamera eingefangen, schickte er das Material an internationale Medien – natürlich über das Darknet. Dafür nutzte er nicht nur Tor, sondern auch andere Verschlüsselungssoftware und veröffentlichte stets unter einem Pseudonym.
„Das Darknet kann friedlich und menschlich sein, wenn es Schutz bietet“, sagt Alrifaee. „Wenn es aber dafür benutzt wird, Waffen und Drogen zu kaufen, ist das schrecklich!“, findet auch er und kann Menschen verstehen, die diesen verborgenen Teil des Internets am liebsten verbieten würden. Aber: „Das Darknet lässt sich nicht verbieten“, sagt Alrifaee. Denn wenn Tor verboten würde, gäbe es einfach andere Programme, mit denen Nutzer unentdeckt im Internet unterwegs sein könnten.
Für den heute 26-Jährigen war das Darknet in Syrien seine Lebensversicherung. Seit er vor zwei Jahren in Deutschland ankam, hat er diese Seite des Internets nicht mehr betreten – und ist auch froh, dass er das hier nicht muss.