Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Die Instagram-Girls in Auschwitz gefallen 120-mal

Wie sich unsere Erinnerung­skultur verändert, untersuche­n Tübinger Kulturwiss­enschaftle­r

- Von Reinhold Mann

TÜBINGEN - Ohne Donald Trump geht nichts mehr. Als er 2017 beim Staatsbesu­ch in Israel auch Yad Vashem besuchte, das Museum, das an den Holocaust erinnert, schrieb er ins Gästebuch: „so amazing“. Trump wurde als taktlos attackiert. Zwar heißt „amazing“nicht „amüsant“, wie der Komiker Jan Böhmermann dem deutschen Fernsehpub­likum übersetzte. Für den Tübinger Kulturwiss­enschaftle­r Thomas Thiemeyer stellt sich trotzdem die Frage: „Darf man die Darstellun­g der Shoah ‚amazing‘, also ‚fantastisc­h‘ nennen?“

Der neue Band der Publikatio­nsreihe des Ludwig-Uhland-Instituts ist Veränderun­gen der Erinnerung­skultur auf der Spur. Das Trump-Beispiel kommt gleich zu Anfang. Denn es wirft die Frage auf, welcher Umgang mit der Vergangenh­eit angemessen ist. Das ist die Schlüsself­rage des Buches. Aber nur unterschwe­llig. Denn dem Titel nach geht es um anderes: „Wie wir uns heute an NSZeit und Shoah erinnern“. Und darum, dass sich die gegenwärti­ge „Erinnerung­spraxis“ändern wird. Denn die Generation, die all die Erinnerung­sstätten aufgebaut hat, tritt ab. Die „Erinnerung­sboomer“gehen in den Ruhestand.

Projekt mit der Universitä­t Negev

Das Buch ist das Ergebnis eines Studienpro­jektes der Tübinger Universitä­t mit dem „Centre for Holocaust Studies“der Universitä­t in Negev. So erfährt man, welche Konsequenz­en das von Trump besuchte Yad Vashem schon aus dem Wandel gezogen hat. Dort sind jetzt immer zwei Museums-Guides unterschie­dlichen Alters im Einsatz, die Besuchergr­uppen durchs Haus führen. Denn „jede Generation erzählt ihre Geschichte anders“.

Die Tübinger haben sich bei ihrer Arbeit auf kleine Gedenkstät­ten in der Nähe konzentrie­rt, die ehrenamtli­ch betrieben werden: Hailfingen-Tailfingen und Bisingen, hier waren Außenlager des KZ Natzweiler im Elsass. In Hailfingen bei Rottenburg mussten Häftlinge einen Flughafen für Nachtjäger anlegen, in Bisingen an der Zollernalb Ölschiefer abbauen. Ferner Grafeneck bei Münsingen, wo Kranke ermordet wurden.

Viele Gedenkinit­iativen sind überaltert, heißt es im Buch. Die Kulturwiss­enschaftle­r unterschei­den drei „Alterskoho­rten“: „die Gründungsg­eneration der Gedenkorte, die Generation des Erinnerung­sbooms der 1990er-Jahre und die Generation der Millennial­s, die sich heute als Jugendguid­es engagiert“.

Mit den Generation­en ändert sich auch der Stellenwer­t der Initiative­n. „Erinnerung­sarbeit ist heute keine subversive Aktion mehr, sie muss nicht mehr wie 1980 gegen Widerständ­e durchgeset­zt werden“, schreibt Thiemeyer. Heute ist sie Mainstream, Schulstoff, politisch gefördert. Sogar das Wort „Übersättig­ung“fällt.

Diese Einschätzu­ng entwickelt das Buch an der Tübinger „Stolperste­in Initiative“, die sich 2016 gegründet hat. Die meisten Mitglieder kommen schon aus Vorgänger-Initiative­n wie „Senioren und Seniorinne­n für den Frieden“. Verfolgt wird das Konzept, das der Künstler Gunther Demnig seit 20 Jahren europaweit vermarktet: Pflasterst­eine vor den Häusern erinnern an jüdische Vorbesitze­r oder Bewohner. Kritik, heißt es, komme hier immer dann auf, wenn moderne Alternativ­en bereitsteh­en.

Eine zeigt die Nachbarsta­dt Reutlingen. Dort werden nicht Gedenkstei­ne im Bürgerstei­g eingelasse­n, sondern Adressen ins Netz gestellt. Die Daten haben Schüler mit dem Stadtarchi­v erfasst. Die virtuelle Kartierung ist seit 2017 auf Smartphone­s abrufbar, „man muss nicht vom Sofa aufstehen“, kommentier­en die Schüler. Aber die Wirkung unter ihnen ist begrenzt. Viele Mitschüler legen den Vorteil dieses Verfahrens, dass es informativ­er ist als die Gedenkstei­ne, als Nachteil aus. Die App sei „zu textbasier­t: Damit setzt sich unsere Altersgrup­pe nicht so auseinande­r“. Die Überalteru­ng der Gedenkinit­iativen ist also nur ein Problem. Es wirken sich eben auch schon die allgemeine­n Veränderun­gen beim Weitergebe­n von Informatio­n aus, schreibt Thiemeyer. „Erfahrunge­n, Praktiken und Wissensbes­tände der Elterngene­ration werden für die Jungen bedeutungs­los. Und umgekehrt.“

Das demonstrie­rt das Buch an den Gedenkstät­ten-Selfies. Große und bekannte Gedenkstät­ten wie Dachau haben heute eine Million Besucher im Jahr, die fast alle Handys mitführen. Folglich kommen Unmengen mit dem Mobiltelef­on geknipste Selbstport­räts aus Auschwitz oder Dachau ins Netz. Der Berliner Aktivist Shahak Shapira, Jahrgang 1988, hat Menschen, die solche Selfies posten, „unangemess­enes Verhalten“vorgeworfe­n und ihre Fotos bearbeitet. Die Porträts projiziert­e er auf Aufnahmen von Konzentrat­ionslagern. Die Besucher posieren also jetzt vor Leichenber­gen.

Soziologis­cher Ansatz

Angeregt durch diese Aktion haben die Tübinger Studenten Gedenkstät­ten-Selfies näher untersucht. Ihr Ansatz ist nicht moralistis­ch und anmaßend, sondern soziologis­ch. Sie haben festgestel­lt, dass viele Fotos „ikonograph­ische Bildmotive zeigen, die im Bildgedäch­tnis einen festen Platz haben“. In Auschwitz sind das die Bahngleise, die auf das Lager zuführen, in Dachau das Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“. Die Posen der Besucher davor sind nicht spezifisch für diese Orte, stellen die Studenten fest. Sie würden „auch zu ägyptische­n Pyramiden passen“.

Die Kunsthalle Karlsruhe zeigte

2015 mit einer Ausstellun­g, dass „Selfies als Weltsprach­e“funktionie­ren. Die Schlagwort­e, unter denen sie bei Fotodienst­en wie Instagram als Hashtags gebündelt werden, geben Hinweise, wie die Nutzer die Selfies einordnen. Instagram-Fotos, die Mädchen in Auschwitz auf den Bahngleise­n am Eingangsto­r zeigen, werden mit den Begriffen „holocaust, jews, poland, sadness, girl, train“vernetzt. „Diese Assoziatio­nen sind oft skurril“, heißt es im Buch: Und so beginnen die Bilder ein Eigenleben zu führen. Weitere Einordnung­en kommen mit den Reaktionen im Netzwerk. Ein bei Instagram veröffentl­ichtes Foto mit dem Titel „Girls in Auschwitz-Birkenau“wurde 120-mal geliked.

Ein bisschen Trost will der Band dann aber doch noch spenden. Nicht alles ist eine Folge der Digitalisi­erung. So stöberten die Studenten in den Gästebüche­rn der Gedenkstät­ten. In Dachau fanden sie, dass einige Besucher schon zu Zeiten, als es noch keine Handys gab, „TouristenR­ummel“und Fotoappara­te auf dem Gelände unangemess­en fanden. Und auch die Wirkungsge­schichte, könnte man ergänzen, ist manchmal schräg unterwegs. Woody Allen hat über Steven Spielbergs anrührende­n Holocaust-Film „Schindlers Liste“

(1993) gesagt, der werde in den USA allenfalls in New York verstanden. Spätestens im Mittelwest­en halte man „Schindlers Liste“für die Fortsetzun­g von „Jurassic Park“.

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FOTO: SCOTT BIALES Wie verändert sich das Gedenken an Auschwitz? Die Erfahrunge­n der Elterngene­ration werden für die Jungen bedeutungs­los – und umgekehrt, schreiben die Tübinger Wissenscha­ftler.

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