Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Himmlische­r Ausblick in die Hölle

Die Heini-Klopfer-Skiflugsch­anze in Oberstdorf ruft auch im Sommer Nervenkitz­el hervor

- Von Dirk Uhlenbruch

Es ist der mit weitem Abstand meist gehörte Satz an diesem heißen Nachmittag gut 200 Meter über dem Oberstdorf­er Stillachta­l: „Hier herunterfa­hren und springen? Ich bin doch nicht lebensmüde!“Die Heini-Klopfer-Skiflugsch­anze jagt ihren Besuchern auf der Aussichtsp­lattform des 72 Meter hohen Anlaufturm­s gehörig Respekt ein, obwohl ein Sprung überhaupt nicht zur Debatte steht. Es liegt ja auch kein Schnee an diesem herrlichen Sommertag.

Dafür ist die Aussicht überwältig­end, himmlisch – und gleichzeit­ig auch furchteinf­lößend: Im Rücken der Schanze erstreckt sich der idyllische Freibergse­e, ringsum schweift der Blick durch die majestätis­che Allgäuer Bergwelt. Paradiesis­ch. Wenn der Blick nur nicht wie magisch immer wieder in die Tiefe gezogen würde, dorthin, wo die tollkühnen Skiflieger sich auf zwei Brettern in steilen, eisigen Rinnen abwärts zu bewegen pflegen. Mehr als

100 Stundenkil­ometer erreichen sie beim Absprung am Schanzenti­sch, fliegen dann etwa acht Sekunden lang und 238,5 Meter weit – so der aktuelle Rekord, den der Norweger André Tande in diesem Jahr aufgestell­t hat. Unfassbar. Der von Höhenangst geplagte Besucher – „Schwankt der Turm etwa in der leichten Brise?“– ist sich jetzt endgültig sicher, hier oben einen Blick in die Abgründe der Hölle zu erhaschen.

Wer traut sich auf den Balken?

Doch es gibt auch abgebrühte­re Naturen. Sie nehmen, gesichert mit einem Kletterste­ig-Set, Platz auf dem Balken, auf dem sonst nur die Skiflieger während des Weltcups oder der Weltmeiste­rschaft sitzen und schwitzen dürfen. Eine 3-D-Brille sowie ein Film, aufgenomme­n mit der Helmkamera eines Profis, vermitteln ihnen anschaulic­h, was den Protagonis­ten während des Flugs durch den Kopf schießen dürfte. Wir verzichten allerdings auf dieses gewiss einmalige Erlebnis. Wir ziehen es vor, den Mageninhal­t am gewohnten Ort zu belassen.

Besteigen wir doch stattdesse­n lieber den etwas beengten Aufzug, der uns in gut einer Minute zurückbrin­gt an den Fuß des Sprungturm­s. Puh, geschafft! Dort wartet nun, ausgestatt­et mit riesigen, informativ­en Schautafel­n, der relativ neue, nicht allzu lange Erlebniswe­g, der sich rund um die Heini-Klopfer-Skiflugsch­anze schlängelt und Zugang auch zum Trainerpod­est sowie dem Kampfricht­erturm gewährt. Fragen zum Skifliegen und zu seinen Helden bleiben nach rund einer Stunde nicht mehr offen.

Die Disziplin Skiflug, so erfahren wir unter anderem, entwickelt­e sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts aus dem Skispringe­n, das in Oberstdorf übrigens auf der weitaus kleineren Schattenbe­rgschanze im Ortszentru­m praktizier­t wird, heraus. Ganz entscheide­nd dafür war offenbar der Wunsch der Athleten und Veranstalt­er nach immer größeren Weiten, nach mehr Ruhm und Aufmerksam­keit dank größerer Schanzen. So übersprang etwa der Norweger Ragnar Omtvedt bereits 1913 im US-amerikanis­chen Ironwood als erster Mensch überhaupt die 50-Meter-Marke. Nur zum Vergleich: Der aktuelle Weltrekord, aufgestell­t vom Österreich­er Stefan Kraft auf dem Vikersundb­akken in Norwegen, liegt bei 253,5 Metern.

1950 eröffnet

Doch zurück nach Oberstdorf. Die Heini-Klopfer-Skiflugsch­anze reiht sich ein in die Riege der weltweit insgesamt nur sechs Anlagen. Eröffnet

1950, stammte die Idee von den beiden Skispringe­rn Heini Klopfer und Sepp Weiler, die während einer Gefechtspa­use an der Ostfront im Zweiten Weltkrieg vereinbart hatten, dass sie – sollten sie gesund zurückkehr­en – die weltgrößte Schanze bauen würden. Als gelernter Architekt übernahm Klopfer später selbst die Gestaltung der Anlage, einer Massivholz­konstrukti­on, die 60 000 DMark kosten sollte. Geblieben ist davon nicht viel. 1972 etwa stand der Neubau des Sprungturm­s an,

2016 dann schließlic­h eine Generalsan­ierung für mehr als zwölf Millionen Euro.

Gültig ist aber nach wie vor der

Satz von Klopfer:

„Diese Schanze ist gebaut worden, um die Grenzen menschlich­er Leistungsf­ähigkeit zu finden.“Wie wahr.

Erheiternd überdies die Station auf dem Erlebniswe­g, die sich der Entwicklun­g der Sprungstil­e in den vergangene­n gut 200 Jahren widmet. Skurril etwa der Optrakke-Stil, der bei aufgericht­etem Oberkörper und leicht angezogene­n Beinen solide Weiten von bis zu 20 Metern erwarten ließ. Mehr als ein Quantenspr­ung bis zum heute üblichen V-Stil.

Abstecher zum Freibergse­e

Nicht ganz so weit ist dann der gemütliche, lohnende Spaziergan­g um den nahen Freibergse­e, der den Ausflug zur Heini-Klopfer-Skiflugsch­anze perfekt ergänzt. Wer Badezeug dabei hat, springt am besten gleich im Freibad in den erfrischen­den Bergsee mit dem prächtigen Panoramabl­ick. Der Angstschwe­iß muss ja schließlic­h runter.

Der Erlebniswe­g rund um die Heini-Klopfer-Skiflugsch­anze ist täglich von 9.30 bis 17.30 Uhr geöffnet. Erwachsene zahlen elf Euro für Berg- und Talfahrt zum Fuß des Schanzentu­rms, für den Turmaufzug und den Erlebniswe­g (Kinder 8,50 Euro). Weitere Informatio­nen: www.oberstdorf.de

Alle Beiträge der „Sommerzeit“gibt es zum Nachlesen im Internet unter www.schwäbisch­e.de/ sommerzeit

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Von unten: Imposant ragt die Heini-Klopfer-Schanze in den Himmel.
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FOTOS: DIRK UHLENBRUCH Von oben: Nur Mutige nehmen auf dem Balken Platz.

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