Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
„Das grüne Licht muss leuchten“
Leser erhalten Einblicke in den Arbeitsalltag geistig behinderter Menschen
SIGMARINGEN - Im Rahmen der Aktion „Schwäbische Türöffner“haben sich für einige SZ-Leser die Türen der Oberschwäbischen Werkstätten für Behinderte (OWB) geöffnet. Dabei zeigten sich die Leser nicht nur von der Einrichtung, sondern auch von den persönlichen Begegnungen mit den geistig behinderten Mitarbeitern sehr beeindruckt.
„Oberstes Ziel unserer Arbeit ist es, unsere Mitarbeiter so zu qualifizieren, dass sie für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und vermittelt werden können“, sagte Werkstattleiter Gerhard Schuler zu Beginn der Führung. Gemeinsam mit Paul Steinacher vom Sozialdienst gab er einen kurzen Abriss zu den verschiedenen Aufgabenfeldern der OWB. In Sigmaringen werden momentan 157 geistig behinderte Mitarbeiter beschäftigt. Eingehen auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen und die freie Entfaltung der Persönlichkeit haben dabei Priorität, ebenso die Flexibilität in der Arbeitswelt. „Regelmäßig führen wir Mitarbeitergespräche, um sie entsprechend einzusetzen und zu fördern. Keiner soll jahrelang immer nur die gleiche Arbeit machen müssen“, so Steinacher.
OWB Sigmaringen Vereinfachte Sprache und barrierefreie Information
Ein weiterer, neuer Schwerpunkt, der sich wie ein roter Faden durch die Räume der OWB zieht, ist die barrierefreie Information. Dazu wird das Netzwerk Capito Bodensee genutzt. Capito heißt so viel wie „ich habe verstanden“und steht für die Prüfung und Vereinfachung von Informationen für bestimmte Zielgruppen, unter anderem für Menschen mit Lernbehinderungen. So werden zum Beispiel Flyer, Arbeitsvorgänge, Broschüren oder der eigene Internetauftritt in eine leicht verständliche Sprache übersetzt.
Während des anschließenden Rundgangs erhielten die Leser Einblicke in den vielfältigen Arbeitsalltag der Mitarbeiter. Arbeitsabläufe wurden ebenso gezeigt und erklärt wie das Zusammenspiel von Tätigkeiten und psychischer Belastbarkeit. „Es gibt Mitarbeiter, die komplett aus lauten Arbeiten herausgenommen werden müssen. Andere wiederum können sich nicht lange konzentrieren oder arbeiten nur sehr ungern in der Gruppe“, sagte Steinacher.
In den einzelnen Hallen herrschte rege Betriebsamkeit, manchmal war leise Musik zu hören. Oft ertönte ein „Hallo Paul“, wenn Steinacher mit der Gruppe den Raum betrat. Neugierige, manchmal auch scheue Blicke den Fremden gegenüber, doch dann treten die Mitarbeiter überraschend offen und freundlich auf. Stolz erzählen sie über ihre Arbeit, zeigen, was sie gerade herstellen. „Das grüne Licht muss leuchten, dann ist alles in Ordnung“, sagt die junge Frau am Kontrollgerät, und ihr Gegenüber ergänzt: „Wir dürfen nichts falsch machen, sonst gibt es Reklamationen.“
Riesige Produktpalette bereitet Mitarbeitern vielfältige Arbeit
Die Arbeit ist vielfältig, die Produktpalette scheint riesig. Auto-Zubehörteile, Ventile für Sanitäranlagen, Schellen für Melkmaschinen, Holzleisten für Wohnmobile, Einlegeböden, Sockelleisten für Küchen, Magnetstopper für Sicherheitstüren – es wird gesägt, gestanzt, gewerkelt, geprüft, gewogen, gezählt, verpackt... Nichts wird dem Zufall überlassen, die Mitarbeiter und ihre Betreuer wissen, dass die Arbeitsleistung stimmen muss. Die Auftraggeber sind ebenso namhafte regionale Firmen wie auch Weltmarktführer. „Und wir sind froh über jeden Auftrag und möchten unsere Kunden natürlich mit guter Arbeit überzeugen“, so Steinacher. Mittlerweile sind die Auftragsbücher so voll, dass im Frühjahr eine neue Halle angebaut werden muss.
Aber nicht nur Fremdaufträge absolvieren die Mitarbeiter der OWB. Sie haben auch eigene Produkte im Repertoire. So zum Beispiel eine große, transportable Pinnwand mit allem, was dazugehört, sowie einen Moderationskoffer, der ebenfalls samt Inhalt von den Mitarbeitern produziert wird. „Der einzige Nachteil ist, dass er zu stabil ist, der geht einfach nicht kaputt“, sagt ein Betreuer schmunzelnd.
Rahmenprogramm bereitet den Mitarbeitern einen Ausgleich
Aus einem Nebengebäude erklingen Trommelrhythmen. Eine der sogenannten arbeitsbegleitenden Maßnahmen, die als Ausgleich zur Arbeit den Mitarbeitern angeboten werden. Nordic Walking, Fußball, Gedächtnistraining, Theater, Singen, Stadtführungen, Ausflüge, kreative Workshops und vieles mehr gehören dazu.
Vor dem „Blauen Haus“bemerkte ein Leser das offene Gelände. „Wir haben hier extra keinen Zaun, auch wenn wir Bewohner mit einem gewissen Weglauf-Potenzial haben. Wir wünschen uns Begegnungen mit den anderen Menschen aus der Nachbarschaft oder Spaziergängern, die hier vorbeigehen“, erklärte Steinacher. In dem Gebäude, dem sogenannten Förder- und Betreuungsbereich, werden erwachsene Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung betreut, die so schwer beeinträchtigt sind, dass sie nicht oder noch nicht in der Lage sind, in einer der Produktionsgruppen der Werkstatt zu arbeiten. In den Gruppen erlernen sie mit einem klar strukturierten Tagesablauf Sicherheit und Verlässlichkeit.
Eine von ihnen ist Frau Müller. Bereitwillig erzählt sie vom Verkehrsunfall und ihrem schweren Schädel-Hirn-Trauma. Dabei strahlt sie eine Zuversicht aus, die berührt. Auf die Frage, ob sie fotografiert werden möchte, antwortet sie keck: „Aber nur, wenn ich auf dem Bild gut aussehe.“
Diese emotionalen Momente und Begegnungen, die beeindruckende Arbeit der behinderten Menschen und derer, denen sie anvertraut sind, haben am Ende der zweieinhalbstündigen Führung die Leser sehr bewegt. „Es war hochinteressant, was die moderne Förderung für diese Menschen möglich macht“, äußerte sich einer von ihnen, und nachdenklich schob er hinterher: „Das eigene Leben macht jetzt noch mehr Spaß.“
Eine Bildergalerie zum Schwäbischen Türöffner OWB gibt es auf