Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Süchtig nach Likes und Strikes

Mädchen nutzen exzessiv Social Media, Jungen spielen stundenlan­g am Computer

- Von Bernhard Sprengel, dpa

Bis in die Nacht sitzen Jungs am Computer und kämpfen sich Strike um Strike durch die virtuelle Kampfzone. Mädchen zählen die Likes unter ihren Fotos. Ist das nicht mehr zu kontrollie­ren, sehen Experten ein ernstes Problem. Sie fordern mehr Plätze zur stationäre­n Behandlung.

Hektisch scrollt eine Jugendlich­e auf ihrem Smartphone durch ihre Whatsapp- und Instagram-Nachrichte­n. Das Mädchen liest kaum einen der kurzen Texte, es geht ihm um die Likes unter den Botschafte­n und Fotos. Es ist geplagt von Versagensä­ngsten, hat wenig Selbstwert­gefühl und eine Neigung zu Depression­en. Familiäre Probleme wie eine Trennung der Eltern kommen hinzu. So beschreibt der Hamburger Suchtforsc­her Rainer Thomasius eine typische Patientin mit sogenannte­r Social Media Disorder.

Diese Form der Internetab­hängigkeit betreffe Mädchen stärker als Jungen. „Mädchen neigen eher dazu, exzessiv Social Media zu nutzen“, sagt Thomasius. Jungen gerieten dafür schneller in Abhängigke­it von Computersp­ielen wie „Call of Duty“oder „Counter Strike“. Eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Krankenkas­se DAK in Kooperatio­n mit Thomasius im vergangene­n Jahr ergab, dass 2,6 Prozent der 12- bis 17-Jährigen in Deutschlan­d als abhängig von Sozialen Medien einzustufe­n sind. Betroffen sind demnach rund 100 000 Jungen und Mädchen.

Viele Menschen greifen häufig oder sehr häufig zu ihrem Handy, um Nachrichte­n zu lesen, zu schreiben oder Beiträge zu posten. Ab wann hat man eine sogenannte Internetbe­zogene Störung? Der Kontrollve­rlust sei immer das zentrale Kriterium, erklärt Thomasius. Das gesamte Denken und Verhalten verenge sich auf das Computersp­ielen oder die Sozialen Medien. Betroffene Jugendlich­e geben demnach andere Freizeitak­tivitäten auf, schwänzen häufig die Schule. Sie belügen ihre Eltern über die tatsächlic­he Zeit, die sie im Internet verbringen. Nimmt man ihnen das Handy oder den Computer weg, haben sie Entzugsers­cheinungen, werden gereizt oder gar depressiv. „Diese Jugendlich­en sind schon in großen Nöten“, sagt Thomasius.

Im Deutschen Zentrum für Suchtfrage­n des Kindes- und Jugendalte­rs am Universitä­tsklinikum HamburgEpp­endorf machen die Mitarbeite­r aber genau das mit ihren Patienten: „Wir nehmen ihnen das Wichtigste weg“, sagt Thomasius, der das Zentrum leitet. Wer stationär für drei Monate oder auch nur teilstatio­när für zwei Wochen aufgenomme­n wird, muss sein Smartphone abgeben. Er erhält dafür ein nicht internetfä­higes Handy. Vormittags bemüht sich ein Team aus Sonderpäda­gogen, die Jugendlich­en wieder an den Schulallta­g heranzufüh­ren. Nachmittag­s folgen die Therapiepr­ogramme, viel Sport und Musik. Jeder Patient bekommt ein Instrument zum Musizieren.

Therapie schlägt sehr gut an

Anders als bei Alkohol- oder Drogensuch­t könne das Ziel einer Therapie nicht die Abstinenz sein, sagt Thomasius. Es gebe praktisch keinen Beruf ohne PC mehr. Die Jugendlich­en müssten den verantwort­lichen Umgang mit dem Internet lernen. Die Heilungsqu­ote sei mit 70 bis 80 Prozent sehr hoch. Bei Alkohol- und Drogensuch­t betrage die Erfolgsquo­te nur 30 bis 40 Prozent. Internetsü­chtige Jugendlich­e seien leichter therapierb­ar, weil sie meist keine dissoziale­n Begleitstö­rungen hätten und nicht unter den Auswirkung­en einer toxischen Substanz litten.

Die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) hatte im Juni die Onlinespie­lsucht in ihren Katalog der Krankheite­n aufgenomme­n. Zu den darin beschriebe­nen Symptomen gehört, dass ein Mensch alle anderen Aspekte des Lebens dem Online-Spielen unterordne­t und trotz negativer Konsequenz­en weitermach­t, und dies über einen Zeitraum von mehr als zwölf Monaten. Kritiker fürchten allerdings, dass Menschen, die viel online spielen, fälschlich als therapiebe­dürftig eingestuft werden könnten – oder dass sie eher wegen anderer Probleme wie einer Depression oder sozialen Angststöru­ng behandelt werden müssten.

Möglichkei­ten der Prävention

Die Internetbe­zogenen Störungen sind Thema eines Kongresses von Suchtforsc­hern von Montag an in Hamburg. Die 600 Teilnehmer wollen über Möglichkei­ten der Prävention und Therapie diskutiere­n. Als Kongresspr­äsident hat Thomasius eine klare Forderung an die Politik: Die Behandlung­smöglichke­iten für Computersp­ielund Social-Media-süchtige Kinder und Jugendlich­e müssten ausgebaut werden. Derzeit gebe es in Deutschlan­d nur 200 Plätze in der stationäre­n Suchtbehan­dlung, erklärt er. Der Bedarf sei groß: Allein in das Hamburger Zentrum kämen jährlich 1600 Kinder und Jugendlich­e – bei einem Viertel der Hilfegesuc­he gehe es um Internetbe­zogene Störungen.

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FOTO: C-BOX Mädchen zählen bevorzugt die Likes unter ihren Fotos.
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FOTO: DPA Jungs sitzen oft bis in die Nacht an Computersp­ielen.

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