Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
May unter Druck
Regierungschefin setzt für Notfall offenbar auf Neuwahlen
LONDON (dpa) - Die politisch angeschlagene britische Premierministerin Theresa May lässt nach Informationen der „Sunday Times“einen Notfallplan für Neuwahlen im November ausarbeiten. Auf diese Weise wolle sie die Brexit-Verhandlungen und ihr eigenes Amt retten, berichtete die Zeitung. Zwei ihrer Berater sollen bereits mit Planungen begonnen haben. Eine klare Quelle nannte die Zeitung aber nicht. Downing Street dementierte den Bericht am Sonntag umgehend: „Das ist schlicht falsch“, sagte ein Sprecher.
Bereits im vergangenen Jahr hatte May Neuwahlen ausgerufen, um sich mehr Rückendeckung zu verschaffen. Der Plan ging jedoch daneben: Seitdem regiert die Premierministerin nur noch mit hauchdünner Mehrheit. Mit Spannung wird angesichts des enormen Drucks, der auf May lastet, auch der bevorstehende Parteitag der Konservativen erwartet, der Sonntag beginnt.
LONDON - In der britischen Politik gewinnen Spekulationen an Fahrt, wonach das Volk erneut über den EU-Austritt abstimmen solle. Auf dem Jahrestreffen der wichtigsten Oppositionspartei Labour soll am Dienstag in Liverpool über die Forderung nach einem zweiten BrexitReferendum abgestimmt werden. Die Parteispitze um Jeremy Corbyn signalisierte zwar, sie werde ein entsprechendes Votum respektieren, wünscht sich aber vorrangig Neuwahlen zum Unterhaus. Premierministerin Theresa May hat diese bisher stets ausgeschlossen; Medienberichten zufolge aber gibt es unter Mays engsten Beratern in der Downing Street Planspiele für einen Urnengang im November.
Die Konservative war vergangene Woche in Salzburg mit ihrem BrexitPlan, dem sogenannten ChequersPapier, auf unerwartet harten Widerstand der 27 EU-Staats- und Regierungschefs gestoßen. Man befinde sich „in einer Sackgasse“, teilte sie am Freitag der Nation mit, woraufhin das Pfund Sterling erheblich absackte. Märkte und Unternehmen befürchten für Ende März einen ChaosAustritt ohne Vereinbarung mit Brüssel, erste Unternehmen haben bereits Kurzarbeit und Fabrikschließungen angekündigt.
Wegen „Rosinenpickerei“abgelehnt
Heute wird sich Mays Kabinett mit den Folgerungen aus dem Salzburger Debakel befassen. Etwa ein halbes Dutzend der EU-feindlichen Minister dürfte für einen harten Brexit samt Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion eintreten und damit der endgültigen Abkehr vom Chequers-Kurs das Wort reden. Der im Juli gefundene Kompromiss sieht einen weichen Brexit vor, in dem London über die bereits vereinbarte Übergangsfrist bis Ende 2020 hinaus engen Assoziationsstatus genießen würde. Um die Durchlässigkeit der inneririschen Grenze zu garantieren, soll das Vereinigte Königreich in einem Binnenmarkt für Güter verbleiben, will hingegen bei Dienstleistungen eigene Wege gehen. Letzteren Vorschlag lehnt die EU wegen vermeintlicher britischer „Rosinenpickerei“ab.
Brexit-Minister Dominic Raab hielt am Sonntag in Interviews am Chequers-Plan fest; das von Hardlinern geforderte Freihandelsabkommen à la Kanada sei wegen des Sonderstatus von Nordirland keine ausreichende Lösung. Das Gerede über Neuwahlen tat Raab als „Unsinn“ab. Hingegen berichtete die „Sunday Times“von entsprechenden Überlegungen im Umkreis der Premierministerin. May selbst rief ihre Partei dazu auf, die Nerven zu behalten: Es sei immer klar gewesen, „dass diese Verhandlungen gegen Ende am härtesten“sein würden.
Labour fordert schon seit Monaten eine Neuwahl zum Unterhaus: Die zerstrittenen Torys könnten das Brexit-Dilemma nicht lösen. Allerdings herrscht unter Politologen Unklarheit darüber, „was denn eine Neuwahl bringen würde“, wie Patrick Dunleavy von der London School of Economics sagt. Zudem sind Urnengänge in den düsteren Herbst- und Wintermonaten auf der Insel unbeliebt; zum vorläufig letzten Mal stellte sich der damalige Labour-Premier Harold Wilson im Oktober 1974 dem Land zu einer Herbstwahl, seither wurde stets im Mai oder Juni gewählt.
Dunleavys Kollegin Sara Hobolt rätselt darüber, wie die großen Parteien in einem etwaigen Wahlkampf inhaltlich mit dem Brexit umgehen wollen. Dass etwa das Labour-Wahlprogramm den EU-Verbleib propagieren würde, „kann ich mir nicht vorstellen“, analysiert die Professorin. Eine Lösung könnte höchstens darin bestehen, wie Wilson 1974 dem Wahlvolk eine Neuverhandlung mit der EU und anschließende Volksabstimmung zu versprechen.
86 Prozent für neues Referendum
Die Weichen dazu könnte der Labour-Parteitag am Dienstag stellen, Umfragen zufolge wünschen sich 86 Prozent der Mitglieder ein zweites Referendum. Ob dieses den EUVerbleib ermöglichen solle oder lediglich zwischen unterschiedlich harten Varianten des Austritts zu entscheiden hätte, bleibt in der ohnehin konfusen Debatte meist unklar. Anders als seine überwiegend EUfreundlichen Anhänger ist Parteichef Corbyn ein Skeptiker der europäischen Einigung; er spricht häufig davon, man müsse das Austrittsvotum vom Juni 2016 respektieren. Am Sonntag sagte der 69-Jährige aber, er werde sich „widerstrebend“dem Votum der Partei beugen.