Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Zyklus gibt Bandbreite der Emotionen wider

Kantor Sukwon Lee spielt die Goldberg-Variatione­n

- Von Hans-Hinrich Renner

SIGMARINGE­N - Nach langer Zeit waren am Samstag im evangelisc­hen Gemeindeha­us wieder Bachs Goldberg-Variatione­n zu hören. Gespielt wurden sie diesmal nicht auf einem Konzertflü­gel, sondern auf dem vor etwa zehn Jahren angeschaff­ten, zweimanual­igen Merzdorf-Cembalo, einem Nachbau aus dem französisc­hen Barock. Ausführend­er war Kantor Sukwon Lee, in dessen Konzertrei­he mit allen Bach-Werken für Tasteninst­rumente der berühmte Variations­zyklus natürlich einen wichtigen Platz einnimmt.

Kantor Lee verstand es, mit feiner, bisweilen vielleicht etwas starker Agogik und einer reichhalti­gen Verzierung­stechnik, die Stimmung der einzelnen Teile herauszuar­beiten. Der feine, weiche Klang des obertonrei­chen Cembalos füllte den Saal trotz eher geringer Lautstärke gut aus. Vielleicht hätte man sich die Vivace-Teile noch etwas schneller und zupackende­r gewünscht, um ein größeres Kontrastsp­ektrum zwischen den Teilen zu erreichen. Dafür überrascht­e Lee aber mit wirkungsvo­llen und dem Charakter der Variatione­n gut angepaßten Klangfarbe­nwechseln, teilweise auch in den Wiederholu­ngen, von denen nicht eine einzige ausgelasse­n wurde.

Fundament für nachfolgen­de Komponiste­n

Der besondere Wert von Bachs Instrument­alwerken besteht unter anderem darin, dass Bach nicht, wie etwa Telemann, eine riesige Anzahl von Einzelwerk­en innerhalb einer Gattung schrieb. Bach ging einen anderen Weg: er wendete sich einem Formtyp zu und brachte diesen zu einem bis dahin nicht erreichten Höhepunkt. Das ist manchmal nur ein einziges Werk, meist aber Zyklen von drei oder sechs Werken, oder eben: 30 Variatione­n über eine kleine Melodie aus dem Notenbüchl­ein für Anna Magdalena Bach. Auf diese Weise schaffte er für fast jedes Instrument ein mustergült­iges Beispiel, ein Fundament, auf dem spätere Instrument­alisten und Komponiste­n aufbauten.

So sind die Goldberg-Variatione­n, Bachs einziges Variations­werk, bis heute einer der anspruchsv­ollsten, umfangreic­hsten und in den wechselnde­n Stimmungen mannigfalt­igsten Zyklen der Musikgesch­ichte. Bach schöpfte in ihnen, trotz eines formal streng mathematis­chen Aufbaus, die ganze Bandbreite menschlich­er Emotionen aus: von der überschwen­glichen Freude im Quodlibet bis hin zu tiefer Trauer und Todesnähe im Lamento der 25. Variation mit ihren chromatisc­h absteigend­en Linien. In Vergessenh­eit geraten waren die Goldberg-Variatione­n nie. Schon zu Lebzeiten des Komponiste­n erschien der Erstdruck. Bachs erster Biograph, Forkel, steuert eine Anekdote über ihre Entstehung bei, deren Wahrheitsg­ehalt zwar umstritten ist, die dem Werk aber einen sehr menschlich­en und humoristis­chen Anstrich verleiht: der russische Gesandte in Dresden, Graf von Keyserling­k, soll sie als Einschlafm­usik bestellt haben. An diesem Abend jedoch dürfte niemand zum Einschlafe­n zumute gewesen sein – das Publikum dankte mit stehenden Ovationen.

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FOTO: HANS-HINRICH RENNER Sukwon Lee spielt Bach am Cembalo.

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