Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Zyklus gibt Bandbreite der Emotionen wider
Kantor Sukwon Lee spielt die Goldberg-Variationen
SIGMARINGEN - Nach langer Zeit waren am Samstag im evangelischen Gemeindehaus wieder Bachs Goldberg-Variationen zu hören. Gespielt wurden sie diesmal nicht auf einem Konzertflügel, sondern auf dem vor etwa zehn Jahren angeschafften, zweimanualigen Merzdorf-Cembalo, einem Nachbau aus dem französischen Barock. Ausführender war Kantor Sukwon Lee, in dessen Konzertreihe mit allen Bach-Werken für Tasteninstrumente der berühmte Variationszyklus natürlich einen wichtigen Platz einnimmt.
Kantor Lee verstand es, mit feiner, bisweilen vielleicht etwas starker Agogik und einer reichhaltigen Verzierungstechnik, die Stimmung der einzelnen Teile herauszuarbeiten. Der feine, weiche Klang des obertonreichen Cembalos füllte den Saal trotz eher geringer Lautstärke gut aus. Vielleicht hätte man sich die Vivace-Teile noch etwas schneller und zupackender gewünscht, um ein größeres Kontrastspektrum zwischen den Teilen zu erreichen. Dafür überraschte Lee aber mit wirkungsvollen und dem Charakter der Variationen gut angepaßten Klangfarbenwechseln, teilweise auch in den Wiederholungen, von denen nicht eine einzige ausgelassen wurde.
Fundament für nachfolgende Komponisten
Der besondere Wert von Bachs Instrumentalwerken besteht unter anderem darin, dass Bach nicht, wie etwa Telemann, eine riesige Anzahl von Einzelwerken innerhalb einer Gattung schrieb. Bach ging einen anderen Weg: er wendete sich einem Formtyp zu und brachte diesen zu einem bis dahin nicht erreichten Höhepunkt. Das ist manchmal nur ein einziges Werk, meist aber Zyklen von drei oder sechs Werken, oder eben: 30 Variationen über eine kleine Melodie aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach. Auf diese Weise schaffte er für fast jedes Instrument ein mustergültiges Beispiel, ein Fundament, auf dem spätere Instrumentalisten und Komponisten aufbauten.
So sind die Goldberg-Variationen, Bachs einziges Variationswerk, bis heute einer der anspruchsvollsten, umfangreichsten und in den wechselnden Stimmungen mannigfaltigsten Zyklen der Musikgeschichte. Bach schöpfte in ihnen, trotz eines formal streng mathematischen Aufbaus, die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen aus: von der überschwenglichen Freude im Quodlibet bis hin zu tiefer Trauer und Todesnähe im Lamento der 25. Variation mit ihren chromatisch absteigenden Linien. In Vergessenheit geraten waren die Goldberg-Variationen nie. Schon zu Lebzeiten des Komponisten erschien der Erstdruck. Bachs erster Biograph, Forkel, steuert eine Anekdote über ihre Entstehung bei, deren Wahrheitsgehalt zwar umstritten ist, die dem Werk aber einen sehr menschlichen und humoristischen Anstrich verleiht: der russische Gesandte in Dresden, Graf von Keyserlingk, soll sie als Einschlafmusik bestellt haben. An diesem Abend jedoch dürfte niemand zum Einschlafen zumute gewesen sein – das Publikum dankte mit stehenden Ovationen.