Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Timo Boll räumt alles ab – auch den Freund der Familie
Der 37-jährige Hesse wird zum siebten Mal Europameister, im Halbfinale gegen Patrick Franziska glückt ihm ein besonderer Coup
ALICANTE (dpa/SID) - Nach seinem Matchball verbeugte sich Timo Boll vor dem Publikum. Der Ausnahmespieler des deutschen Tischtennis ist am Sonntag zum siebten Mal in seiner Karriere Einzel-Europameister geworden – mit 37 Jahren und nur drei Monate nach einer schmerzhaften Halswirbel-Verletzung.
Trotz seines Trainingsrückstands wehrte Boll bei der EM in Alicante noch mal die Angriffe seiner immer aufmüpfiger werdenden Herausforderer ab. Am Schlusstag gewann der Weltranglisten-Vierte zunächst das deutsche Halbfinal-Duell mit seinem Freund Patrick Franziska in 4:3 Sätzen, am Abend auch noch das Endspiel gegen den rumänischen Außenseiter Ovidiu Ionescu mit 4:1. Der für Mühlhausen spielende 29-Jährige, der bei den TTF Ochsenhausen ausgebildet wurde und mit 18 dort für die zweite Mannschaft spielte, war der Überraschungsmann der EM, hatte gegen Boll aber trotz gewonnenem ersten Satz keine Chance. „Ich kann das gar nicht glauben. Ich hatte null Erwartungen vor diesem Turnier“, sagte der am Ende. „Aber ich bin ein Kämpfer, ich gebe nie auf.“
Aus deutscher Sicht krönte der Rekord-Europameister ein starkes Turnier. Kristin Lang und Nina Mittelham hatten zuvor Gold im Doppel gewonnen durch ein 4:3 gegen Sofia Polcanova und Jana Noskowa aus Österreich und Russland. Ruwen Filus und Han Ying hatten bereits am Freitagabend den Titel im Mixed geholt.
Im Mittelpunkt stand allerdings Boll, der in der 2. Runde beim 4:3 gegen den jungen, in Ochsenhausen trainierenden Franzosen Can Akkuzo ums Haar ausgeschieden wäre. Der einzige, der nie wirklich an seinen siebten EM-Titel nach 2012, 2011, 2010, 2008, 2007 und 2002 glauben wollte, war tatsächlich Boll selbst. „Ich bin nach meiner langen Pause noch etwas langsam“, hatte er noch am Freitag betont. Den Erfolg verdankte er am Ende seinen Leistungssteigerungen von Spiel zu Spiel. Und dem Umstand, dass auch andere Rivalen mit Problemen zu kämpfen hatten.
Sein stärkster Rivale Dimitrij Ovtcharov etwa schied bereits im Achtelfinale gegen den Altmeister Wladimir Samsonow aus Weißrussland aus, weil ihm nach zwei langen Verletzungspausen ebenfalls noch die Wettkampfpraxis fehlt. Den hoch gehandelten Engländer und früheren Ochsenhausener Liam Pitchford, der kürzlich ein bewegendes Interview über seine Ängste und Depressionen gegeben hatte, inzwischen aber immer stärker wird, räumte Boll am Samstag selbst aus dem Weg (4:2). Blieb sein Kumpel und Nationalteamkollege Franziska, als Weltranglisten-16. auf dem Sprung in die Weltklasse. Der 26-Jährige vom 1. FC Saarbrücken führte im Halbfinale bereits mit 3:1 Sätzen und später mit 7:3 im finalen Satz – und zeigte dann Nerven. Boll machte acht Punkte in Folge, Franziska zeigte Nerven. „Natürlich steigt dann der Druck und auch etwas die Nervosität“, gab er zu. „So eine Führung hat man nicht alle Tage. Aber sachlich betrachtet weiß ich, dass das eine Super-EM für mich war.“
Sein Erfolg „nach meinem besten Spiel im Turnier“über den Freund seiner gesamten Familie war Boll gegenüber Töchterchen Zoe ein wenig unangenehm: „Wir alle mögen Franz. Meine Tochter hat mir vor dem Spiel noch gesagt, sie hoffe auf ein Unentschieden.“Weil zwei Sieger aber nicht möglich sind, darf sich Boll nun ältester Europameister aller Zeiten nennen.