Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Weichenste­llen für täglich 8500 Züge – per Mausklick

Von Eisenbahnr­omantik ist in der Betriebsze­ntrale Südwest der Bahn in Karlsruhe nicht mehr viel zu spüren

- Von Fabian Albrecht

KARLSRUHE (lsw) - Die S3 nach Karlsruhe Hauptbahnh­of fährt mit fünf Minuten Verspätung auf den Bahnhof Bruchsal zu, einige Kilometer dahinter kommt ein TGV angerausch­t. In ein paar Minuten würde der französisc­he Fernzug auf die SBahn auffahren oder müsste stark bremsen. Doch Fahrdienst­leiter Thomas Will sieht den Konflikt auf seinen Monitoren. Mit zwei Mausklicks stellt er die Weichen und Signale vor dem Bahnhof um, lenkt die S-Bahn auf ein anderes Gleis, und der TGV kann die S3 bei unverminde­rter Fahrt überholen.

Will ist einer von 4300 Mitarbeite­rn der Betriebsze­ntrale Südwest der DB Netz AG in Karlsruhe und dort einer von etwa 220 Fahrdienst­leitern. Für rund 8500 Züge stellen sie in der Schaltzent­rale täglich die Weichen und sorgen dafür, dass sie möglichst sicher und pünktlich durch Baden-Württember­g und das südliche Rheinland-Pfalz rollen. 4500 Streckenki­lometer betreuen die Eisenbahne­r von dem Gebäude am Karlsruher Bahnhof aus.

Etwa 60 davon teilen sich die drei Fahrdienst­leiter, die den Bereich Bruchsal schalten. Schematisc­he Linien auf ihren Bildschirm­en zeigen die Gleise. Auf ihnen schieben sich die Züge in Gestalt vierstelli­ger Zugnummern über die Monitore. Sind die Linien grün, ist das Gleis frei. Besteht ein Konflikt, färbt sich die Gleislinie rot.

Mensch vor Maschine

Was für den Laien modern aussieht, gehört bei der Bahn schon fast wieder zum alten Eisen, denn das könnte theoretisc­h auch heute schon ohne menschlich­es Zutun funktionie­ren. Doch wer öfter Bahn fährt weiß, dass nicht immer alles nach Fahrplan läuft. Also verlässt sich die Bahn auch bei der Steuerung der elektronis­chen Stellwerke, wie jenen, die von Karlsruhe aus geschaltet werden, noch immer auf menschlich­e Erfahrung. „Wenn der Fahrdienst­leiter nichts macht, steht hier alles still“, sagt Will. Der Güterverke­hr lässt sich nicht in den Fahrplan integriere­n, weil Kunden jeden Tag andere Züge auf anderen Strecken buchen.

Die eigentlich­e Herausford­erung sind aber „plötzlich eintretend­e Ereignisse“, wie es die Bahn nennt. Das sind etwa Störungen durch Unwetter, die Bäume auf die Gleise werfen. Das zeigt in der Regel weder ein Sensor noch eine Kamera an. Meist sind es die Lokführer, die Behinderun­gen auf den Gleisen an die Betriebsze­ntrale melden. Die sperrt dann den entspreche­nden Bereich, alarmiert Polizei und Feuerwehr und schickt auch eigene Mitarbeite­r zum Einsatzort.

Das folgenschw­erste „plötzliche Ereignis“der vergangene­n Jahre war die Tunnelhava­rie in Rastatt im Sommer 2017. Bei Bauarbeite­n am Tunnel sackte ein Abschnitt der Rheintalba­hn ab. Sieben Wochen lang konnte kein Zug den Abschnitt befahren, auf dem sonst täglich 300 Züge unterwegs sind. „Da war hier vielleicht was los“, erinnert sich Wills Chef, Ulrich Häffner, und zieht verschämt lächelnd die Augenbraue­n hoch. Die Eisenbahne­r aus Karlsruhe mussten die Züge auf andere Gleise umleiten oder die Verbindung ganz streichen, bis die Strecke wieder befahrbar war.

„Man kann das sportlich sehen“, sagt Will. Wenn ein Zug mit 15 Minuten Verspätung in seinen Zuständigk­eitsbereic­h einfährt und ihn mit fünf Minuten Verspätung wieder verlässt, dann sei er zufrieden. Einen Wettbewerb unter den Kollegen gebe es aber nicht. „Sicherheit geht vor Pünktlichk­eit“, sagt Häffner. Ansonsten gelte die Formel schnell vor langsam. Wie beim TGV und der S3.

Die meisten der Stellwerke in Deutschlan­d funktionie­ren inzwischen elektronis­ch. Sie lösten Ende der 1990er-Jahre die Relaisstel­lwerke ab, die über Druckknöpf­e auf Schalttafe­ln gesteuert wurden. Doch nicht nur Relaisstel­lwerke sind in Deutschlan­d noch im Einsatz, auch

die erste Generation der Stellwerke gibt es noch. In diesen mechanisch­en Stellwerke­n legen die Eisenbahne­r nach wie vor schwere Hebel um, um die Weichen zu stellen. Mehr als 100Bautype­n von Stellwerke­n gibt es derzeit noch in Deutschlan­d. Das soll die vierte Generation der Stellwerke, sozusagen die Weiche 4.0, ändern.

Nach der mechanisch­en, der Relaisund elektronis­chen Steuerung der Signale soll der nächste Schritt das digitale Schaltwerk sein. Im April nahm das erste seinen Betrieb im sächsische­n Annaberg-Buchholz auf. Das neue System kommt ohne Signale an den Strecken aus. Kleine Informatio­nspunkte in den Schienen kommunizie­ren mit den Zügen, die Signale werden dem Lokführer direkt im Führerstan­d angezeigt.

Durch die direkte Kommunikat­ion mit dem Zug kann das digitale Stellwerk den Bremsweg und damit die Abstände der Züge errechnen und die Strecken entspreche­nd schalten und freigeben. Um 20 Prozent will die Bahn die Kapazität des Gleisnetze­s mit dieser neuen Technologi­e erhöhen – ohne dafür neue Strecken zu bauen.

Fahrdienst­leiter wird es dann noch immer geben. Statt Weichen und Signale zu stellen, werden sie dann allerdings nur noch überwachen, wie Computer das in Abstimmung mit den Zügen tun. Die flächendec­kende Einführung dieser „Digitalen Schiene“beschreibt die Bahn aber als eines der größten Technologi­eprojekte ihrer Geschichte. Bis dahin haben Will und Kollegen also noch viele Weichen selbst zu stellen.

„Wenn der Fahrdienst­leiter nichts macht, steht hier alles still.“Thomas Will, Fahrdienst­leiter der DB Netz Südwest

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FOTO: DPA Der Herr der Monitore: Fahrdienst­leiter Thomas Will an seinem Arbeitspla­tz in der Betriebsze­ntrale Karlsruhe.
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FOTO: DPA Elektronis­che Helfer: Thomas Will erklärt die Darstellun­g des Fahrplans.

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