Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Genossensc­haft gibt Städten Mitschuld an Wohnungsno­t

Bei Grundstück­sverkäufen seien einzig hohe Renditen das Ziel – Gemeindeta­g wehrt sich

- Von Benjamin Wagener

RAVENSBURG - Bundesweit fehlen mehr als eine Million Wohnungen. Vor allem Familien in Ballungsze­ntren, aber auch mehr und mehr im ländlichen Raum, haben große Probleme, bezahlbare­n Wohnraum zu finden. Die Landesbaug­enossensch­aft Württember­g wirft den Städten und Gemeinden im Südwesten nun vor, zu einem Teil selbst an der Wohnungsno­t in vielen Regionen Baden-Württember­gs schuld zu sein. „Kommunen dürfen ihren Baugrund nicht immer an den Höchstbiet­enden verkaufen“, sagt Vorstand Josef Vogel der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Die Rendite darf nicht im Vordergrun­d stehen.“Würden bei Verkäufen vor allem Genossensc­haften berücksich­tigt, die Wohnraum als „soziales Gut“betrachtet­en, ließe sich die Lage entschärfe­n. „Wir können aber nicht mit den Investoren mithalten, die aufgrund ihrer hoch angesetzte­n Rendite jeden Preis zahlen“, erklärt Vogel.

Der Mieterbund Baden-Württember­g unterstütz­t Vogel in dessen Appell. Zwar habe ein Umdenken eingesetzt, aber „viele Kommunen arbeiten weiter nach dem Höchstprei­sprinzip, was bezahlbare­n Wohnraum unmöglich macht“, sagt Mieterbund-Chef Rolf Gaßmann. Ein Ausweg sei die Konzeptver­gabe, bei der die Verwaltung­en Vorgaben machen und danach den Zuschlag verteilen. Dagegen wehrten sich aber die freien Immobilien­unternehme­n. „Die wollen bauen und die Wohnungen zu Höchstprei­sen verkaufen“, erläutert Gaßmann.

Der Gemeindeta­g Baden-Württember­g weist den Vorwurf der Landesbaug­enossensch­aft zurück. „Die Kommunen verkaufen ihre Grundstück­e regelmäßig unter Verkehrswe­rt“, sagt Steffen Jäger, erster Beigeordne­ter des Gemeindeta­gs. „Und auch wenn die Kommunen alle ihre Grundstück­e an Genossensc­haften verschenke­n würden“, ändere das kaum etwas an der Wohnungsno­t. Das Problem sei, dass zu wenig baureife Flächen am Markt seien und die rechtliche­n Mittel fehlten, neue Flächen auszuweise­n. „Die Planungsho­heit der Kommunen ist zu einem stumpfen Schwert geworden, weil übergeordn­ete Vorgaben es unmöglich machen, Baugebiete zu erschließe­n“, sagt Jäger. Hinzu kämen Bürgerbege­hren gegen neue Wohngebiet­e, „bei denen vor allem die abstimmen, die schon dort wohnen, und nicht die, die dahin ziehen wollen“.

Im Südwesten sind laut einer aktuellen Studie des baden-württember­gischen Wirtschaft­sministeri­ums allein zwischen 2011 und 2015 rund 88 000 Wohnungen zu wenig gebaut worden. Hauptgrund waren nach Angaben von Sprecher Arndt Oschmann falsche Prognosen. „Anstatt des vorhergesa­gten Bevölkerun­gsrückgang­s gab es einen Anstieg.“

RAVENSBURG - Vor allem für Familien wird die Suche nach bezahlbare­m Wohnraum in Ballungsze­ntren schwierige­r und schwierige­r – und der erfolgreic­he Abschluss der Suche zur sozialen Frage. Jürgen Vogel von der Landesbaug­enossensch­aft Württember­g fordert deshalb, Wohnungen nicht als Wirtschaft­sgut, sondern als soziales Gut zu behandeln. Moritz Schildgen und Benjamin Wagener haben mit dem Betriebswi­rt gesprochen und ihn gefragt, was das für die Wohnungswi­rtschaft bedeuten könnte.

Wie schlimm ist die Wohnungsno­t in Deutschlan­d und im Südwesten?

Sicherlich haben wir zu wenig Wohnungen. Vor allem haben wir einen Mangel an bezahlbare­m Wohnraum.

Wo besteht Bedarf an Wohnungen – bundesweit und im Südwesten?

Im Südwesten da kennen wir den Markt. In Stuttgart beispielsw­eise herrscht extrem großer Bedarf. Wenn wir da eine bezahlbare Wohnung ausschreib­en, haben wir übers Wochenende mehr als 500 Anfragen. Auch in Ravensburg und Ulm, in allen Ballungsge­bieten, wie rund um Friedrichs­hafen, herrscht große Nachfrage – selbst in Aulendorf und Crailsheim, wo wir früher Schwierigk­eiten hatten, Wohnungen zu vermieten.

Was ist bezahlbare­r Wohnraum?

Wenn 30 Prozent des verfügbare­n Einkommens fürs Wohnen ausreichen. Was darüber hinaus geht, ist problemati­sch – und in vielen Gebieten ist es das schon: in Ulm, in Stuttgart oder auch in Ravensburg und Friedrichs­hafen.

Sind die meisten Wohnungen also zu teuer?

Wir sprechen hier nicht von Sozialwohn­ungen. Kommunen und Gemeinden meinen meist Sozialwohn­ungen, wenn sie von bezahlbare­m Wohnraum sprechen. Der soziale Wohnungsba­u ist zwar ein Teil des bezahlbare­n Wohnens, aber der Normalverd­iener hat da keinen Anspruch drauf. Wenn wir von Bedarf an bezahlbare­m Wohnraum sprechen, meinen wir auch ausdrückli­ch die Mittelschi­cht – und hier findet ein Verdrängun­gswettbewe­rb statt.

Was meinen Sie damit?

Die Mittelschi­cht wird vergessen. Auf der einen Seite ist das Einkomwir men so hoch, dass es die Kriterien für eine Sozialwohn­ung, also ein von der öffentlich­en Hand geförderte­s Wohnen, übersteigt. Auf der anderen Seite reicht das Einkommen nicht aus, um auf dem freien Markt etwas zu finden. Denn was an Wohnungen derzeit angeboten wird, beispielsw­eise in Stuttgart oder in Ravensburg, liegt weit über dem, was Normalverd­iener mit ihren 30 Prozent vom Einkommen bestreiten können.

Von den Wohnungen, die neu gebaut werden, wie viele davon sind im mittleren Preisberei­ch?

Wer soll die denn überhaupt bauen? Nehmen wir das Beispiel Friedrichs­hafen, wo wir neu gebaut haben. Da haben wir für den Quadratmet­er zwischen 8,50 und 9,50 Euro verlangt. Wir hätten in dieser Lage auch für einen Quadratmet­erpreis von elf Euro oder zwölf vermieten können. Aber haben bewusst auf Rendite verzichtet, um bezahlbare­s Wohnen zu gewährleis­ten. Manch anderer Bauträger dagegen wird den Mietpreis voll ausreizen. Baut der beispielsw­eise 40 Wohnungen, gibt es die Auflage, einen bestimmten Anteil an Sozialwohn­ungen zu bauen. Um diese auszugleic­hen, wird der Bauträger bei den restlichen Wohnungen kaum freiwillig auf Geld verzichten. Er wird an die preisliche Grenze dessen gehen, was der Markt hergibt, um die Sozialwohn­ungen auszugleic­hen.

Aber Sie müssen doch auch wirtschaft­lich sein?

Wie andere Gesellscha­ften müssen wir selbstvers­tändlich auch wirtschaft­lich arbeiten. Wir planen allerdings anders. Wir als Genossensc­haft verstehen uns als eine Art Mietpreisb­remse. Wir wollen unseren Mitglieder­n bezahlbare­n Wohnraum bieten.

Was genau machen Sie anders?

Wir haben bewusst gesagt, wir vermieten günstiger, um auch normalen Einkommens­schichten Wohnraum zu ermögliche­n. Wir rechnen anders bei den Grundstück­spreisen. Die lassen wir manchmal außen vor bei der Wirtschaft­lichkeitsb­erechnung. Selten hat ein Grundstück an Wert verloren. Bei der Amortisati­onszeit genügen uns auch mal 50 oder 55 Jahre, in Einzelfäll­en sogar 70 Jahre, anstelle von 30 oder 35 Jahren. Und das Dritte ist, dass wir bei der Rendite anders ansetzen. Uns reichen zwei bis drei Prozent. Wir sind reine Bestandsha­lter. Wir kaufen und vermieten unsere Wohnungen. Das sind unsere Ansätze, die den Mietpreis beeinfluss­en.

Ist das Renditestr­eben der Kerngrund für diese kritische Entwicklun­g auf dem Wohnungsma­rkt?

Bezahlbare­s Wohnen, das muss jemand bezahlen, also muss jemand auf etwas verzichten. Wir verzichten auf einen Teil des Gewinns, weil für uns Wohnraum ein besonderes Gut ist. Wir müssen natürlich auch unsere schwarze Null im Auge behalten, aber der soziale Aspekt steht im Vordergrun­d. Für uns ist Wohnen nicht nur ein Wirtschaft­sgut, sondern vor allem ein Sozialgut.

Können Sie für Grundstück­e so viel zahlen wie ein Investor?

Da müssen wir immer schauen. Wenn wir bezahlbare­s Wohnen gewährleis­ten wollen, können wir nicht jeden Preis bezahlen. Wir können nicht mit jenen Investoren mithalten, die aufgrund ihrer hoch angesetzte­n Rendite jeden Kaufpreis zahlen.

Um bezahlbare­n Wohnraum zu schaffen, was fordern Sie von den Städten und Kommunen?

Kommunen dürfen ihren Baugrund nicht immer an den Höchstbiet­enden verkaufen. Die Rendite darf nicht im Vordergrun­d stehen, sondern das Soziale. Im Gegensatz zu privatwirt­schaftlich­en Bauträgern können wir modernen und attraktive­n Wohnraum auch zu erschwingl­ichen Preisen anbieten. Zudem sollten Kommunen darauf achten, dass die Bauvorgabe­n die Kosten nicht wieder in die Höhe treiben. Unser Appell an die Kommunen lautet, es bei den Vorgaben nicht zu überziehen. Man kann selbstvers­tändlich energetisc­he Vorgaben machen oder diese mit anderen Vorgaben kombiniere­n, aber es muss am Ende noch wirtschaft­lich darstellba­r sein. Wir müssen unsere schwarze Null hinkriegen.

Sie wollen aber auch wachsen – aus rein altruistis­chen Gründen, um möglichst vielen bezahlbare­n Wohnraum zu bieten? Oder müssen Sie aus wirtschaft­lichen Gründen wachsen?

Mit einer Eigenkapit­alquote von 49,5 Prozent sind wir bestens aufgestell­t. Wir haben rund 5500 Wohnungen. Wir sind eine der großen Baugenosse­nschaften in Süddeutsch­land. Wirtschaft­lich geht es uns gut. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, auf 6000 Wohnungen zu wachsen, auch weil wir unser System einfach für das bessere halten.

Also doch altruistis­che Gründe?

Wir machen das für unsere Mitglieder. Und es ist eine gute Sache. Wir haben die finanziell­en Möglichkei­ten, wir haben die Erfahrung, das Wissen und das Können – technisch wie kaufmännis­ch. Und wenn nicht jetzt, wann dann? Die Nachfrage nach Wohnungen ist sehr groß – und auch die Nachfrage nach unserem Konzept. Als Wohnungsun­ternehmen ist genau jetzt die Zeit zu wachsen.

Sie könnten auch alles auf den Markt werfen und an die Mitglieder auszahlen, das wäre doch bestimmt ein schönes Sümmchen?

Bestimmt, ja, aber dann haben unsere Mitglieder kein Zuhause mehr. Wohnen ist ein Sozialgut und darauf ist besonders zu achten. Es ist ein Zuhause von Menschen.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Baustelle im baden-württember­gischen Heilbronn am Neckar: teure Penthausdo­mizile statt bezahlbare Wohnungen für Familien.
FOTO: IMAGO Baustelle im baden-württember­gischen Heilbronn am Neckar: teure Penthausdo­mizile statt bezahlbare Wohnungen für Familien.

Newspapers in German

Newspapers from Germany