Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Geschichte­n vom verlorenen Glück

Die Ravensburg­erin Katrin Seglitz hat sich mit syrischen Kriegsflüc­htlingen unterhalte­n und aus deren Erzählunge­n ein Buch gemacht

- Von Bernd Hüttenhofe­r

RAVENSBURG - „Plötzlich hörte ich ein Zischen, mein Onkel griff nach meiner Hand und hat mich auf den Boden gerissen. Eine Bombe schlug in unserer Nähe ein und explodiert­e. Es war sehr laut, kurze Zeit habe ich nichts mehr gehört, weil die Druckwelle so stark war. Als wir wieder aufstehen konnten, sahen wir, dass alle Autos kaputt waren, die Fenster auch, überall Splitter und Löcher. Mein Onkel sagte, dass ich meinem Vater nichts davon erzählen sollte. Nach eineinhalb Stunden haben wir wieder Tamarinden­saft verkauft.“

Vielleicht sollte man öfter Schilderun­gen wie diese zu Gehör bringen, wenn wieder mal von den „berechtigt­en Anliegen besorgter Bürger“die Rede ist, die kaum oder gar keinen Kontakt zu Ausländern haben. Vielleicht sollte man Menschen wie den 20-jährigen Mohamed aus Aleppo zu Wort kommen lassen, wenn die AfD die Flüchtling­sthematik wieder mal auf die Probleme mit der kriminelle­n Minderheit der Ausländer zu reduzieren versucht. Die allermeist­en Kriegsflüc­htlinge aus Syrien haben andere Sorgen im neuen Land als islamistis­ches Gedankengu­t zu verbreiten oder Drogen zu verkaufen, sie müssen die Sprache lernen, ihre Kinder in die Schulen schicken, schauen, dass sie Arbeit kriegen und ihren Unterhalt verdienen.

Wer wissen möchte, wie das Leben dieser Menschen früher in ihrer Heimat Syrien war und wie es jetzt ist in Deutschlan­d, kann ja mal Katrin Seglitz fragen. Die gebürtige Münchnerin, die seit 20 Jahren in Ravensburg lebt, hat engen Kontakt zu syrischen Flüchtling­en, seit sie 2015 für eine Ausstellun­g in der Kreisgaler­ie Meersburg Interviews mit ihnen geführt hat. Seglitz hat Literatur, Philosophi­e und Kunstgesch­ichte studiert, einen Roman geschriebe­n, leitet Text- und Schreibwer­kstätten, schreibt für Zeitungen, hält Vorträge und eröffnet Ausstellun­gen. Und sie unterricht­et Deutsch in Integratio­nskursen, wie im Februar 2017 in Ravensburg. In ihrem Sprachkurs waren vorwiegend Menschen aus Syrien. Aus dem neuerliche­n Kontakt mit den Flüchtling­en entwickelt­e Seglitz die Idee eines Erzählproj­ekts mit dem Ziel, die Texte zu veröffentl­ichen.

Das ist jetzt geschehen, am Donnerstag­sabend präsentier­te Seglitz vor rund 100 Interessie­rten im Kornhaussa­al in Ravensburg ihr Buchprojek­t, für das Mohamed den Titel geliefert hat: „Meine traurige Heimat war das schönste Land der Welt. Jetzt ist es das unglücklic­hste.“Aus friedliche­n Protesten gegen das autoritäre Regime von Präsident Baschar al-Assad entwickelt­e sich ein nun sieben Jahre andauernde­r Krieg, der geschätzt 500 000 Menschen das Leben kostete, Städte in Schutt und Asche legte und elf Millionen Syrer obdachlos machte. Khaled aus Hasaka hat das auf den Punkt gebracht: „Das Volk wollte, dass Assad geht. Weil Assad nicht ging, ist das Volk gegangen.“Ein kleiner Teil davon nach Deutschlan­d.

Was allen Erzählunge­n, die Seglitz zu hören bekam, gemein ist: Es sind Geschichte­n vom verlorenen Glück. Viele Menschen haben Schrecklic­hes erlebt, Angehörige verloren, ihren Besitz, ihre gesellscha­ftliche Stellung, ihre Berufe, ihre Heimat. Im Kornhaus lasen Mohamed, der 33-jährige Kurde Dersim aus Derbessie, der in Ankara Medizin studiert hat und sechs Sprachen spricht, sowie die 37-jährige Muna aus Aleppo und ihre elfjährige Tochter Rusal aus ihren eigenen Texten.

Manfred Kohrs, Mentor des 18jährigen Abdul, gab am Ende eine Geschichte aus 1001 Nacht zum Besten, die auch das Buch abschließt. In der sagt der Seefahrer Sindbad: „Wer in den Gärten des Glücks lebt, der teile aus von seinem Überfluss an seine Mitmensche­n und achte sie als seine weniger glückliche­n Brüder. Denn Glück ist Gnade und Geschenk, dessen wir würdig sein müssen; auch sollen wir wissen, dass Allah es uns nehmen kann über Nacht und dass vielleicht schon morgen wir es sind, die vor fremden Gärten stehen und seufzen und erfreut sind, wenn uns aufgetan wird.“

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FOTO: OSBERT+SPENZA Mohamed, Dersim und Muna (von links) beim Lernen.

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