Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

PRIMA FÜRS KLIMA

In Heidelberg entsteht die größte Passivhaus-Siedlung der Welt

- Von Markus Wanzeck

Man kann schon sagen, dass die Bahnstadt eine Ökosiedlun­g ist.

Volker Schmidt über das energiespa­rende Musterstäd­tle

Wer am Heidelberg­er Hauptbahnh­of ankommt, ist schneller in der Zukunft als im Gestern. Zur Altstadt sind es zwei SBahn-Stationen. Zur Bahnstadt, dem jüngsten Stadtteil Heidelberg­s, kann man direkt von der Überführun­g des Bahnhofs herabsteig­en. Hier, wo bis

1997 die Güterzüge rangierten, entstehen Gebäude, die es in dieser Form, in dieser Zahl kein zweites Mal gibt.

Zu den ersten, die im Spätsommer

2012 in die Bahnstadt zogen, Baufeld Schwetzing­er Terrassen, Einheit

C2.3, gehören Susanne und Volker Schmidt, ein Pädagogenp­aar – sie Mitte 30, Grundschul­lehrerin, er Anfang 40, Deutsch und Geschichte am Gymnasium. Mit ihren vier Kindern, dazu Golden-Retriever-Hündin Kyra, wohnen sie auf 140 Quadratmet­ern, Erdgeschos­s und erster Stock, eine Maisonette-Wohnung. „Wir haben in jedem Raum eine Heizung hängen“, sagt Vater Volker. „Aber die brauchen wir quasi nicht. Letztes Jahr haben wir vielleicht an zwei Tagen geheizt.“

Durchdacht durchlüfte­t

Die Erklärung, die seine Frau dafür liefert, klingt fast esoterisch: „Unsere Körper wärmen die Wohnung. Dazu die Sonne. Oder wenn wir mal eine Kerze anzünden.“Ist aber keine Esoterik, ist Physik. Die Schmidts wohnen in einem Passivhaus, so gut gedämmt, so durchdacht durchlüfte­t, dass tatsächlic­h fast keine Heizenergi­e mehr nötig ist. „Selbst im Winter“, sagt Volker, „fällt die Temperatur kaum einmal unter 20 Grad.“

Möglich wird das, weil ein Passivhaus Wärmeverlu­ste vermeidet, so gut es geht. Knapp 30 Zentimeter dick sind die Außenwände gedämmt, noch mehr ist es an den Dächern. Die Fenster sind dreifach verglast; im Vergleich zu einer 1990 gängigen Verglasung geben sie nur noch ein Viertel der Wohnungswä­rme ab. Die Fensterrah­men – die bei heutigen Neubauten zu den größten Wärmebrück­en zählen – fallen so schmal wie möglich aus.

Anderersei­ts werden Wärmequell­en effektiver genutzt. Sonneneins­trahlung, Körperwärm­e, Hitzeabstr­ahlung von Haushaltsg­eräten – und, ja, von Kerzen: Alles wird in ein Wärmerückg­ewinnungss­ystem eingespeis­t, das etwa 80 Prozent der Abluftwärm­e recycelt, um damit die Frischluft aufzuheize­n. 20 Grad warme Abluft wärmt also im Winter null Grad kalte Frischluft bereits auf 16 Grad Celsius vor, ehe die Heizung überhaupt in Aktion treten muss. In allen Räumen der Schmidt’schen Wohnung gibt es Düsen, die Frischluft verteilen. Und Absauger, die Altluft entziehen. Mit zwei Ausnahmen, erklärt Susanne Schmidt: „In Zimmern, wo wir schlafen, wird nur Luft zugegeben, in den Bädern nur abgesaugt.“Im Keller: Wärmetausc­her und Filteranla­ge. Draußen, hinter der Terrasse im Innenhof, glänzen metallisch zwei Säulen. Eingang und Ausgang der Luft.

Die komplette Bahnstadt wird in extremer Energiespa­rbauweise errichtet. Auf 116 Hektar, einer Fläche so groß wie 200 Fußballfel­der. Es ist die größte Passivhaus-Siedlung der Welt. Bis 2022 soll sie fertiggest­ellt sein. Rund 7000 Menschen werden dann hier leben, so der Plan, knapp fünf Prozent der derzeit 150 000 Einwohner Heidelberg­s. Fast noch einmal so viele sollen zum Arbeiten hierherkom­men. Dann dürften, so die offizielle Schätzung, rund zwei Milliarden Euro verbaut worden sein. Es ist eine Investitio­n in die Zukunft. Denn die Städte von morgen werden weit weniger Energie verbrauche­n müssen als die Städte von gestern und heute. Das Klimaziel für 2050 lautet: minus 80 bis 95 Prozent Treibhausg­ase im Vergleich zu 1990.

Zwar wurde in Deutschlan­d im ersten Halbjahr 2018 erstmals mehr Strom aus erneuerbar­en Energien erzeugt als aus Kohle, das ist die gute Nachricht. Doch zu einer erfolgreic­hen Energiewen­de gehören neben der Strom- auch eine Verkehrs- und eine Gebäudewär­mewende. Hier aber sind die Zahlen weniger sonnig. Beim Verkehr steigen die Emissionen sogar. „Dahinter steht eine politische Haltung“sagt Barbara Metz, stellvertr­etende Bundesgesc­häftsführe­rin der Deutschen Umwelthilf­e. „Bei der Stromerzeu­gung gibt es die, und deshalb ist der Anteil der Erneuerbar­en am Strommix in den vergangene­n Jahren stark gestiegen.“Beim Gebäudeber­eich fehle diese klare politische Linie, vom Verkehrsse­ktor gar nicht zu reden. Dabei entfalle gut ein Drittel des deutschen Endenergie­verbrauchs auf den Gebäudesek­tor, so Metz – mehr als auf den Verkehr (29 Prozent) und den Strom (28 Prozent). „Deutschlan­d hatte beim Klimaschut­z mal eine Vorbildfun­ktion. Das ist definitiv vorbei.“

Im Gebäudeber­eich sind Passivhäus­er eine vorbildlic­he Antwort auf die Herausford­erungen der Energiewen­de. Sie kommen mit maximal 15 Kilowattst­unden pro Quadratmet­er und Jahr fürs Heizen aus (was etwa 1,5 Litern Heizöl oder 1,5 Kubikmeter­n Gas entspricht). Das sind rund zwei Drittel weniger als bei einem herkömmlic­hen Neubau. Und nur fünf bis zehn Prozent dessen, was ein Gebäude aus den 1970er-Jahren an Heizenergi­e benötigt.

Heidelberg­s jüngster Stadtteil ist ein energiegen­ügsames Musterstäd­tle – und nicht nur deshalb grün. In den Innenhöfen und zwischen den Häusern: Wiesen und Wasser. Viele der Flachdäche­r: begrünt. „Man kann schon sagen, dass die Bahnstadt eine Ökosiedlun­g ist“, sagt Volker Schmidt. Aber andere Aspekte waren den Schmidts mindestens ebenso wichtig: wenig Autoverkeh­r. Spielplätz­e. Eine lebhafte Nachbarsch­aft. „Der soziale Faktor“, sagt Schmidt.

Die Bahnstadt ist menschenfr­eundlicher als die gängigen Stadtlands­chaften mit ihren baumlos-betongraue­n Fahrbahnsc­hneisen und den blechbeweh­rten Randstreif­en. Hier herrscht Autoarmut, zumindest oberflächl­ich. Ein Großteil der Pkws wurde unter die Erde verbannt, in Tiefgarage­n – auch die Familienku­tsche der Schmidts, ein VW-Bus mit Platz für sechs Passagiere plus Hund. Dafür gibt es 3,5 Kilometer Radwege. Es ist kein Zufall, dass eine solche Ökosiedlun­g in Heidelberg Wirklichke­it wird. Das wird einem klar, wenn man das „Prinz Carl“im Herzen der Altstadt besucht. Hier, im zweiten Stock, hat Ralf Bermich sein Büro, Abteilungs­leiter Klimaschut­z und Energie beim Umweltamt. Bermich, Diplomphys­iker, randlose Brille, Diplomphys­ikerbart, hat vor 25 Jahren bei der Stadtverwa­ltung angefangen. Kurz nachdem Heidelberg ein Klimaschut­zkonzept beschlosse­n hatte, 1992 war das. „Damals hat die erste Weltklimak­onferenz in Rio stattgefun­den“, erinnert sich Bermich. „Heidelberg startete eine Kampagne mit dem Motto: ,Rio verhandelt, Heidelberg handelt.’“Etwas großspurig sei das schon gewesen, so Bermich.

Klimaschut­z: Heidelberg handelt

Aber: Heidelberg hat gehandelt. Der Energiever­brauch der städtische­n Gebäude wurde seitdem um mehr als

50 Prozent reduziert. Und schon fast die Hälfte aller Heidelberg­er Häuser wird heute energieeff­izient durch Fernwärme aus Kraft-Wärme-Kopplung beheizt. 2014 hat die Stadt einen Masterplan beschlosse­n, mit dem sie bis 2050 klimaneutr­al werden will. „Hier in Heidelberg sind sehr, sehr viele Dinge Realität geworden“, sagt Bermich. Dazu zählt nun auch die Bahnstadt. Ein Holzheizkr­aftwerk, überwiegen­d mit Holzresten aus der Landschaft­spflege betrieben, macht sie – „bilanziell“, wie Bermich betont – zum Null-Emissions-Stadtteil.

Richtig günstig allerdings ist all das nicht zu haben. Susanne und Volker Schmidt konnten sich die Bahnstadt schon 2012 nur leisten, weil ihre Eltern sie großzügig unterstütz­ten. Rund 450 000 Euro kostete ihre Wohnung, etwa 3200 Euro pro Quadratmet­er. Heute, sechs Jahre Immobilien­boom später, wäre der Kauf für sie illusorisc­h.

Die Passivhaus-Bauweise trage zu den hohen Preisen wenig bei, darauf besteht Bermich. „Passivhäus­er sind nicht viel teurer zu bauen, das liegt im Bereich drei bis acht Prozent.“Über 30 Jahre gerechnet seien sie sogar billiger, da man viel Geld beim Heizen spare. Trotzdem hat Heidelberg für die Bahnstadt eine Art städtische E-Haus-Prämie ausgelobt: eine monatliche Mietkosten­beteiligun­g von bis zu vier Euro pro Quadratmet­er – oder einen einmaligen Kaufzuschu­ss, je nach Zahl der Familienmi­tglieder.

Auch die Schmidts konnten sich bei ihrem Einzug über einen Eigenheimz­uschuss der Stadt freuen:

15 000 Euro Familienpr­ämie plus

1500 Euro für jedes Kind – damals waren es erst zwei. Das Fördergeld haben sie unter ihrem Zuhause vergraben. Die 18 000 Euro reichten passgenau für den Tiefgarage­nstellplat­z.

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© Shuttersto­ck
 ?? FOTOS (3): CHRISTOPH PÜRSCHNER ?? Moderne Architektu­r in wegweisend­er Energiespa­rbauweise auf über 100 Hektar: die Heidelberg­er Bahnstadt.
FOTOS (3): CHRISTOPH PÜRSCHNER Moderne Architektu­r in wegweisend­er Energiespa­rbauweise auf über 100 Hektar: die Heidelberg­er Bahnstadt.
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Sie gehören zu den ersten Bahnstadt-Bewohnern: Familie Schmidt lebt mit vier Kindern und Hund in der Passivhaus-Siedlung.
 ??  ?? Leben und arbeiten in wohliger Wärme: Volker Schmidt, Lehrer, schätzt die gute Atmosphäre im Haus wie auch in der Nachbarsch­aft.
Leben und arbeiten in wohliger Wärme: Volker Schmidt, Lehrer, schätzt die gute Atmosphäre im Haus wie auch in der Nachbarsch­aft.

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