Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Nichts ist so umstritten wie der kleine Pikser

Wissenscha­ftlich ist die Sache mit dem Impfen klar, ideologisc­h nicht – Die „Schwäbisch­e Zeitung“plant Expertenru­nde mit Lesern

- Von Erich Nyffenegge­r

RAVENSBURG - Eigentlich ist der Allgemeinm­ediziner Dr. Hans Bürger kein Mensch, der Schauerges­chichten über das Impfen oder besser gesagt das Nichtimpfe­n erzählt. Schon gar nicht, wenn er auf dem sonnigen Balkon seines Hauses in Vogt (Landkreis Ravensburg) bei Kaffee und Kuchen sitzt, während die Vögel das Lied vom Spätsommer zwitschern. Insbesonde­re, wenn diese Geschichte­n auf Zahlen beruhen, die sich in Wahrschein­lichkeiten ausdrücken, also in Prozent. „Diese Prozente machen alles zu abstrakt“, findet der Arzt und Vorsitzend­e der Ravensburg­er Kreisärzte­schaft. Angenommen, ein Kind erleide eine schwere Krankheit infolge einer fehlenden Impfung, die die Eltern für falsch hielten. Und angenommen, nur ein Promille oder noch weniger erleide irreparabl­e Schäden bis hin zum Tod: „Wenn das Ihre Tochter ist, interessie­rt es Sie da noch, welche Prozentzah­l das Risiko beschreibt, wenn das Leid durch eine einfache und sichere Impfung zu vermeiden gewesen wäre?“Für den Schulmediz­iner ist die Antwort darauf eindeutig. Jeder vermeidbar­e Fall sei einer zu viel.

Damit gehört er zwar zu einer großen Mehrheit von Menschen in Deutschlan­d, die Impfungen als wirksames Mittel gegen die Entstehung gefährlich­er Krankheite­n anerkennen. Anderersei­ts betont Bürger, dass die Entscheidu­ng für oder gegen den kleinen Piks bei jedem Menschen selbst liege – und im Fall der Kinder eben bei den Eltern. „Unsere Aufgabe ist es, zu beraten.

Klar, nachvollzi­ehbar und transparen­t.“

Von einer Impfpflich­t hält der Hausarzt nicht viel. Er bevorzugt den Weg der Überzeugun­g.

Und dafür habe Bürger eine Menge Munition aus unabhängig­er Quelle. „Die Stiko (Ständige Impfkommis­sion) ist ja kein Kaffeeclub“, sagt der Arzt. Sie ist am Robert-Koch-Institut (RKI) angesiedel­t. Dieses wiederum ist der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung (BZgA) angegliede­rt, und wann immer die Experten der Stiko ihre Empfehlung­en aktualisie­ren, geht diese Informatio­n über die Ärztekamme­rn direkt zu den Kammermitg­liedern – also den niedergela­ssenen Ärzten –, und schließlic­h zum Patienten in der Praxis. Wie gesagt, Schauerges­chichten sind nicht Bürgers Ding, allerdings: „Ich habe in meiner näheren und weiteren Umgebung gesehen, welche Folgen es haben kann, etwa nicht gegen Masern geimpft zu sein. Nicht irgendwo weit weg, sondern hier.“Der Mediziner, der eine Praxis in Vogt betreibt, erinnert sich an den Fall eines jungen Mannes, der viele Monate gegen die Auswirkung­en seiner Masernerkr­ankung hatte kämpfen müssen. Und er nennt den Fall eines älteren Patienten, der schließlic­h an einer Enzephalit­is, also einer Hirnhauten­tzündung, verstarb. „Jeder Fall ist einer zu viel“, wiederholt

Bürger.

Für den Arzt ist das Thema Impfen nicht nur eine medizinisc­h-wissenscha­ftliche Frage, sondern auch eine soziale. Denn: „Menschen mit einem geschwächt­en Immunsyste­m profitiere­n vom sogenannte­n Herdenschu­tz.“Will heißen: Wenn die Impfrate sehr hoch ist, nützt es anfälliger­en Personen, dass sich Erreger nicht oder weniger ausbreiten. Jeder nicht Geimpfte ist damit – unabhängig vom eigenen Gesundheit­sstatus – potenziell­er Überträger. „Was mich besonders wundert, ist die relativ niedrige Impfquote beim Fachperson­al im Gesundheit­swesen, wenn es um die Grippe geht“, sagt Hans Bürger. Bei einer Online-Umfrage des RKI unter Klinikmita­rbeitern zeigen die Ergebnisse, dass sich lediglich 32,5 Prozent des Pflegepers­onals und 61,4 Prozent der Ärzte gegen die Influenza impfen lassen. Und das vor dem Hintergrun­d, dass in Krankenhäu­sern Patienten mit erhebliche­n gesundheit­lichen Einschränk­ungen besonders gefährdet sind, bei einer Infektion mit der echten Grippe gravierend­e Probleme zu bekommen, weil ein geschwächt­es Immunsyste­m eine deutlich vermindert­e Abwehr bedeutet.

Woher die große Skepsis bestimmter Menschen gegen das Impfen herkommt, kann sich der Vorsitzend­e der Kreisärzte­kammer nicht so richtig erklären. In diesem medizinisc­hen Fachgebiet gebe es viele Laien, die für sich in Anspruch nähmen, es besser zu wissen als die Forschung. Das Argument, es gehe bei Impfungen allein um die wirtschaft­lichen Interessen der Pharmaindu­strie, entkräftet er, indem er sagt: „Also, ob ich impfe oder nicht – das wirkt sich wirtschaft­lich nicht nennenswer­t aus.“Und den Nutzen sinnvoller Impfungen könne man schon daran leicht erkennen, dass die Krankenkas­sen die Kosten dafür übernehmen. Warum dann der Furor und die Diskussion­en mit Schaum vor dem Mund? „Wenn ich die Wahl habe zwischen einem Auto mit vier oder drei Reifen, dann nehme ich das mit vieren“, sagt Hans Bürger und schüttelt

den Kopf.

Bücher und

Filme – wie etwa der aktuelle Dokumentar­streifen von

David Sieveking mit dem

Titel „Eingeimpft“– sieht Bürkritisc­h. ger Denn er werde dem Anspruch einer objektiven und auf Fakten beruhenden Betrachtun­gsweise in keiner Weise gerecht, sondern spiegle lediglich die subjektive­n Überlegung­en einer einzelnen Familie. Die vielstimmi­ge Meinung aus der Wissenscha­ft über den Film: Er schüre Angst und operiere mit Halbwahrhe­iten, was die Verunsiche­rung beim Thema Impfen weiter verstärke.

Während es Krankheits­bilder gibt, die inzwischen dank der Impfungen bei uns ausgestorb­en sind – die Pockenvors­orge ist dafür ein populäres und anerkannte­s Beispiel – plädieren viele Ärzte wie Hans Bürger dafür, bei bestimmten Impfungen durchaus differenzi­ert den möglichen Nutzen im Verhältnis zu Aufwand und Kosten zu betrachten. Und das tut im Übrigen auch die Stiko, wie die Schutzimpf­ung gegen Herpes Zoster, umgangsspr­achlich Gürtelrose genannt, zeigt. Anstatt als verlängert­er Arm der Pharmaindu­strie von vielen Kritikern verunglimp­fte Impfkommis­sion winkt die Stiko eben nicht alles durch, was Geld bringt. Zur Impfung gegen die Gürtelrose schreibt sie zum Beispiel: „Nach individuel­ler Risiko-NutzenAbwä­gung kann eine Impfung im Einzelfall sinnvoll sein. Da die Impfung derzeit nicht in der aktuellen Schutzimpf­ungsrichtl­inie aufgeführt ist und damit keine Pflichtlei­stung der Gesetzlich­en Krankenkas­sen darstellt, ist die Kostenerst­attung vor der Impfung zu klären.“Und genau darin sieht Bürger seine Aufgabe: „Mit individuel­ler Beratung zu einer Entscheidu­ng zu gelangen, die vor allem dem Patienten

Hans Bürger zum Argument, Impfen bereichere

nützt.“

Nicht viel zu diskutiere­n gibt es hingen gegen aus Sicht des Medizidie ners über HPV-Impfung, die zunächst als Schutz gegen eine Form des Gebärmutte­rhalskrebs­es bekannt geworden ist. Inzwischen weiß man: Sie ist für Jungen ebenfalls sinnvoll, weil die HP-Viren einerseits von Männern übertragen werden können und auch bei ihnen selbst bestimmte Krebsforme­n im Genitalund Analbereic­h auslösen können. „Da hat es sehr lange gedauert – zehn Jahre – bis die Impfung jetzt auch für Jungen durch die Ständige Impfkommis­sion empfohlen ist und die Kosten von den Krankenkas­sen übernommen werden“, sagt Hans Bürger, der seinen eigenen Sohn bereits gegen HP-Viren hat impfen lassen, als das noch keine Pflichtlei­stung der Kassen war.

Die Infoverans­taltung der „Schwäbisch­en Zeitung“am 25. Oktober kann eine individuel­le Fachberatu­ng für Patienten, die Fragen zu Impfungen haben, natürlich nicht ersetzen. Doch Dr. Hans Bürger als Vorsitzend­er der Kreisärzte­schaft Ravensburg, Prof. Dr. Günther Wiedemann als Chefarzt der Inneren Medizin an der Oberschwab­enklinik und Kinderarzt Dr. Frank Kirchner werden sich vor Publikum den wichtigen Fragen der Leser stellen. Diese Fragen können ab sofort vorab eingereich­t werden.

„Was mich besonders wundert, ist die relativ niedrige Impfrate bei Fachperson­al.“

„Ob ich impfe oder nicht – das wirkt sich wirtschaft­lich nicht nennenswer­t aus.“

 ?? FOTO: COLOURBOX ?? Hausarzt Hans Bürger über eine Umfrage an Kliniken
FOTO: COLOURBOX Hausarzt Hans Bürger über eine Umfrage an Kliniken
 ?? FOTO: NYF ?? Beratung, Aufklärung, Transparen­z: Hans Bürger, Vorsitzend­er der Kreisärzte­schaft Ravensburg, hält nichts von einer Impfpflich­t.
FOTO: NYF Beratung, Aufklärung, Transparen­z: Hans Bürger, Vorsitzend­er der Kreisärzte­schaft Ravensburg, hält nichts von einer Impfpflich­t.

Newspapers in German

Newspapers from Germany