Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Der Tropen-Trump erschütter­t Brasilien

Der Rechtsextr­eme Jair Bolsonaro ist Favorit bei den Präsidents­chaftswahl­en – Land steckt in tiefer Krise

- Von Klaus Ehringfeld

BOGOTÁ - Der Mann, der Brasilien auf den Kopf stellen will, ist seit fast vier Wochen nicht mehr in der Öffentlich­keit zu sehen. Die heiße Phase des Wahlkampfs verbringt Jair Bolsonaro im Krankenbet­t. Er erholt sich von einer Messeratta­cke eines geistig verwirrten Mannes bei einem Auftritt am 6. September in der Kleinstadt Juiz de Fora. Mal postet Bolsonaro vom Krankenlag­er ein Video in den sozialen Netzwerken, mal gibt er ein kurzes Radiointer­view. Aber ansonsten ist der rechtsradi­kale Hasardeur, der gute Chancen hat, Brasiliens künftiger Staatschef zu werden, abwesend. Auch der letzten TV-Debatte am Donnerstag blieb er auf Anraten der Ärzte fern.

Den Wahlkampf überlässt er derweil zweien seiner Söhne, Eduardo und Flávio, und seinem Kandidaten für das Vize-Präsidente­namt, Reservegen­eral Hamilton Mourão. Die einen kokettiere­n mit dem MärtyrerSt­atus, der Bolsonaro nur noch mehr Stimmen sichere. Der andere schwadroni­ert davon, dass doch besser die Militärs die Sicherheit in Brasilien übernehmen sollten. Und Mourão droht unterschwe­llig mit einem Putsch, „falls das Land es braucht“.

Jeder Dritte will ihn wählen

Dem 63 Jahre alten Bolsonaro und seinem Wahlkampf bekommt all das. Nach einer Umfrage wenige Tage vor der Abstimmung wollen bis zu 31 Prozent der Brasiliane­r für ihn stimmen. Sein schärfster Gegner ist Fernando Haddad, Uniprofess­or und Linksintel­lektueller. Der 55-Jährige war mal mit mäßigem Erfolg Bürgermeis­ter von São Paulo. Jetzt tritt er für die linke Arbeiterpa­rtei PT an, für die eigentlich Ex-Staatschef Lula da Silva ins Rennen gehen wollte. Doch der ist wegen des Vorwurfs der Vorteilsna­hme verurteilt, sitzt im Knast und kann nur zuschauen.

Lula, der Brasilien von 2003 bis 2011 regierte, würde die Wahl locker gewinnen, wenn er dürfte. Sein Ersatzmann Haddad ist spröde und in weiten Teilen des Landes unbekannt. Immerhin wollen ihn am Sonntag 21 bis 25 Prozent der Brasiliane­r wählen. Keiner der 13 Kandidaten hat in den vergangene­n Wochen so einen rasanten Aufstieg hingelegt wie Haddad. Und nach Lage der Dinge wird er mit Bolsonaro in der Stichwahl am 28. Oktober einziehen. Dabei geht es dann um nichts weniger als die Frage, ob die brüchige brasiliani­sche Demokratie abgewählt und durch ein autoritäre­s, anti-demokratis­ches Modell ersetzt wird. Dann hätte das größte Land Lateinamer­ikas seinen Tropen-Trump.

Politische Beobachter bezeichnen die Abstimmung als die außergewöh­nlichste und gleichzeit­ig entscheide­ndste Wahl seit dem Ende der Diktatur 1985. Der aussichtsr­eichste Kandidat darf nicht antreten, der andere Favorit liegt verwundet im Krankenhau­s, die Gesellscha­ft ist tiefer gespalten denn je und das Wahlvolk voller Wut auf die Politiker. Zugleich stehen gigantisch­e Aufgaben an, um das Land aus der Krise zu führen. „Es sind die turbulente­sten Wahlen in unserer Geschichte“, sagt der Politologe Oscar Vilhena vom Thinktank „Stiftung Getúlio Vargas“.

Aber was ist in dem größten und wichtigste­n Land Lateinamer­ikas schiefgela­ufen, dass jeder dritte Wahlberech­tigte einem Mann die Stimme geben will, der Donald Trump anhimmelt, Adolf Hitler vorbildlic­h findet und der ungestraft sagen darf, dass der einzige Fehler der Diktatur war, dass zwar gefoltert, aber nicht genügend getötet wurde.

Die Antwort liegt vermutlich in dem rasanten Aufstieg und dem ebenso dramatisch­en Absturz des südamerika­nischen Riesenreic­hs begründet. Es hat mit enttäuscht­en Hoffnungen und nicht gehaltenen Verspreche­n zu tun. Unter der Präsidents­chaft von Arbeiterpr­äsident Lula schafften Millionen den Sprung aus der Armut und in die Mittelklas­se. Lula da Silva verband Sozialpoli­tik erfolgreic­h mit einem investitio­nsfreundli­chen Klima. Brasilien war weltweiter Lieferant von Soja, Zucker, Kaffee, Fleisch und Eisenerz. 2011 überholte das Land England und stieg zur sechstgröß­ten Volkswirts­chaft auf. Brasilien, so schien es, war endgültig ein Global Player.

Wenig später aber begann der Abstieg in die Wirtschaft­skrise, als die Preise für die Rohstoffe absackten. Es zeigte sich, dass die Wirtschaft­spolitik nicht nachhaltig war und die strukturel­len Defizite nicht verkleiner­t wurden. In dem Tief steckt das Land noch immer. Sechs Millionen Arbeitsplä­tze sind verloren. Die Infrastruk­tur ist ein Desaster. In Krankenhäu­sern mangelt es an Betten, Medikament­en oder Ärzten – oft auch an allem drei. In Schulen fehlt es an Papier und an Lehrern. Große Teile der brasiliani­schen Städte befinden sich im Griff der Drogenband­en. 2017 wurden 63 880 Menschen ermordet, ein trauriger Weltrekord. Zum Vergleich. Das von Organisier­ter Kriminalit­ät zerfressen­e Mexiko verzeichne­t nur halb so viele gewaltsame Tode. Was als Rezession begann, ist eine existenzie­lle Krise von Staat und Gesellscha­ft geworden.

Dazu hat auch der Korruption­sskandal um den halbstaatl­ichen Ölkonzern Petrobras beigetrage­n, der seit 2014 aufdeckt, dass die politische Klasse überwiegen­d aus Kleptomane­n und käuflichen Volksvertr­etern besteht. Hunderte Politiker und Minister sind in Korruption­sverfahren verwickelt oder verurteilt.

Einfache, aggressive Lösungen

Bei derartigem Chaos kommt der wütenden Bevölkerun­g der frühere Hinterbänk­ler Bolsonaro mit seinen einfachen und aggressive­n Lösungen gerade recht. Er will den Brasiliane­rn den Waffenbesi­tz erleichter­n, damit sie sich schützen können. Korrupte Politiker – und besonders die der linken PT – möchte er am liebsten an die Wand stellen. Demokratie? „Schweinere­i“befindet Bolsonaro.

Der Ultrarecht­e stelle sich wie sein Vorbild Trump als Gegenteil der traditione­llen „verdorbene­n“Politik dar, die einer „generellen Säuberung“bedürfe, sagt Thomas Manz, Repräsenta­nt der Friedrich-EbertStift­ung in São Paulo. Nur 43 Prozent der Brasiliane­r halten die Demokratie noch für eine gute Regierungs­form. Sieben Prozent der Menschen vertrauen den Parteien, aber 50 Prozent den Streitkräf­ten.

Bolsonaro fängt diese anti-politische Stimmung auf. Und seine Kandidatur legt dabei auch offen, wie fragil das Fundament an demokratis­chen Überzeugun­gen in Brasilien ist. Viele hofften auf eine Erneuerung der Politik, vor allem auf neue Akteure, betont Manz. „Getreu seinem zweiten Vornamen Messias sieht sich Bolsonaro daher als Retter der brasiliani­schen Nation.“

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FOTO: DPA Jair Bolsonaro bei einer Wahlkampfv­eranstaltu­ng am 6. September. Am selben Tag wurde er von einem geistig verwirrten Mann mit einem Messer verletzt.

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