Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Politisches Nachtgebet rückt die Menschenwürde in den Fokus
Pfarrer Matthias Ströhle stellt fest, dass das gesellschaftliche Klima rauer geworden ist
SIGMARINGEN - Mit einem schwarzrotgelben Flyer und den Überschriften: „Wir sind Hoffnung. Wir sind Zuflucht. Wir sind Vielfalt“hat der ökumenische Vorbereitungsdienst der Diakonie, der Caritas und der evangelischen Kirche die Menschen aus Sigmaringen und der Umgebung dazu eingeladen, beim zweiten politischen Nachtgebet in der Kreuzkirche mit ihrer Anwesenheit Flagge zu zeigen. Über den gesamten Altarraum spannte sich eine schwarze Leinwand mit dem Aufdruck des Artikels 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Vor dieser Kulisse eröffnete Pfarrer Matthias Ströhle mit einer Metapher, dem Bild des europäischen Mietshauses, den Gottesdienst.
Nicht nur das Wetter habe sich in den letzten Wochen verändert, auch das gesellschaftliche Klima sei mancherorts rauer geworden. Ein Riss gehe durch das europäische Haus, die Gräben würden tiefer, die Meinungen extremer, nicht zu helfen werde zu einer legitimen Form des Selbstschutzes. Die humanistischen und christlichen Werte wie Menschenrechte, Demokratie, Toleranz und Nächstenliebe zu benennen und den populistischen Meinungsmachern mit ihren undemokratischen und nationalistischen Parolen Grenzen aufzuzeigen, galten die unterschiedlichen Impulse im Laufe des Nachtgebetes.
Vor dem Banner zündeten die Mitarbeiter des Organisationsteams acht Kerzen an und rückten damit, Gesetzestafeln gleich, große Plakate mit ausgewählten Artikeln der 1948 von Eleonor Roosevelt verfassten Menschenrechtserklärung ins Licht. Sie benannten sowohl Einschränkung (Verfolgung und Vertreibung) als auch Wertschätzung (das Recht auf Asyl in anderen Ländern) der Unterpunkte des Paragraphen 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Menschenwürde ist als einziges Menschenrecht absolut, unveräußerlich und unteilbar, so Barbara Horak, die Gewaltschutzbeauftragte der Diakonie in der LEA.
Während der Aufzählung von Menschenrechtsverletzungen wie Vertreibung, Sklaverei, Diskriminierung oder Pressezensur löschten die Mitarbeiter eine Kerze nach der anderen aus und ließen die Anwesenden im dunklen Kirchenraum über den Satz: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren“, nachdenken. Nach Wolf Biermanns Lied aus dem Jahr 1974: „Du, lass dich nicht verhärten“, gesungen von Gitarrist Aja Gratz aus Biberach, wandten sich die Akteure erneut den Artikeln zu, lasen sie vor, und zündeten wiederum die acht Kerzen an. Mit Eleonor Roosevelts Antwort auf die Frage: „Wo beginnen die Menschenrechte?“und ihrer Antwort: „An den Plätzen nahe dem eigenen Heim!“endete das politische Nachtgebet.
Den musikalischen Schlusspunkt setzte Aja Gratz mit einem Lied von Konstantin Wecker: „Wenn sie jetzt ganz unverhohlen, wieder Nazi-Lieder johlen, über Juden Witze machen, über Menschenrechte lachen ... dann sag nein!“Am Kirchenportal verteilte das Mitarbeiterteam die allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Form eines kleinen Büchleins und lud die Gottesdienstbesucher zu Begegnung und Austausch in den Gemeindesaal der Kreuzkirche ein.