Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Schicksal deutscher Juden erforscht
Riedlinger hat im Bundesarchiv an Gedenkseiten für Holocaust-Opfer gearbeitet
RIEDLINGEN - Am Freitag, 9. November, wird in Deutschland der Judenpogrome vor 80 Jahren gedacht, als viele Synagogen brannten – das war ein Ergebnis des Antisemitismus während der NS-Zeit, der im Holocaust mündete. Der Riedlinger Nicolai M. Zimmermann hat sich beruflich lang mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte beschäftigt. Der Historiker arbeitet im Bundesarchiv in der Abteilung „Reich“und hat maßgeblich zum Aufbau eines „Gedenkbuchs“beigetragen, in dem die Schicksale deutscher Juden während der Zeit dokumentiert sind. Als eine „Zählung des Schreckens“nannte das Nachrichtenmagazin „Spiegel“in einem Artikel die Arbeit von Zimmermann. Der hat sich mit Kollegen von 2008 bis 2014 mit der Dokumentation der Judenverfolgung beschäftigt. Sein Augenmerk galt dem Aufbau des Gedenkbuchs, in dem Einzelschicksale von Juden aus dem damaligen deutschen Reich aufgeführt und hinterlegt sind.
In einem Artikel in der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“fasst der Archivar die Ergebnisse zusammen. So benennt er die Anzahl der aus Deutschland stammenden Juden, die dem Holocaust zum Opfer fielen, mit rund 175 000. Das heißt: Rund drei Prozent der durch die Nazis ermordeten Juden kamen ursprünglich aus Deutschland. Die größten Opferzahlen gab es in Polen mit 2,7 Millionen ermordeten Juden oder in der Sowjetunion mit 2,1 Millionen Ermordeten. Der Prozentsatz der jüdischen Opfer in Deutschland ist damit deutlich niedriger als etwa in anderen Ländern, wie Zimmermann erläutert: Im Deutschen Reich überlebten rund 73 Prozent der jüdischen Bevölkerung, in Jugoslawien nur 25 Prozent, in Polen nur 19 Prozent und in Griechenland nur rund 18 Prozent aller Juden. „Die Deutschen waren Ursache und Auslöser des Massenmords, doch die deutschen Juden hatten die besseren Chancen“, so Zimmermann.
Zimmermann hat auch die Erklärung für diese Zahlen: So wurden für diese Untersuchung diejenigen betrachtet, die im damaligen deutschen Reich lebten und jüdischer Abstammung waren. Dies waren rund
750 000 Menschen. Fast die Hälfte von ihnen, nämlich 330 000, konnten in andere Länder emigrieren, hat der Riedlinger aus den historischen Quellen ermittelt. „Die deutschen Juden hatten relativ lange Zeit sich anzupassen und sich darauf einzustellen“, stieg doch seit 1933 der Antisemitismus in der Bevölkerung stetig an. Dabei spielte auch der 9. November vor 80 Jahren eine große Rolle: „Der Novemberpogrom von 1938 spielte bei diesem schmerzlichen Prozess eine wichtige Rolle und führte zu einem unbekannten Anstieg der Emigrationszahlen“, schreibt Zimmermann in seinem Aufsatz. In anderen Ländern, die von der deutschen Armee erobert worden sind, gab es diese Anpassungszeit und diese Fluchtmöglichkeit nicht. Sie wurden in die Konzentrationslager geschickt oder anderswie ermordet.
Die Zahl von 175 000 sorge regelmäßig für Irritationen, weil offenbar immer die Zahl von sechs Millionen erwartet werde, schreibt Zimmermann in der wissenschaftlichen Arbeit. Und er weiß, dass diese Zahl Wasser auf den Mühlen von Gestrigen ist. „So erhält das Bundesarchiv häufig Zuschriften von HolocaustLeugnern, die darin eine Bestätigung ihrer kruden Thesen sehen, ebenso von empörten Mitbürgern, die darin eine Verharmlosung des Holocaust befürchten“, heißt es im Aufsatz. Dem wurde mit einer eindeutigen Textergänzung auf den Gedenkseiten im Internet Rechnung getragen.
„Das Gedenken an den Holocaust ist wichtig für das Selbstverständnis des Staates“, so Zimmermann. Daraus hat sich die Idee des Gedenkbuchs entwickelt, das persönliche Schicksale namentlich dokumentiert. Ein erstes Gedenkbuch wurde
1986 erstellt. Doch mit dem Fall der Mauer hatten die Historiker Zugang zu weiteren Quellen, so dass die Arbeit fortgesetzt wurde. Ziel ist es zu jedem der 750 000 deutschen Juden einen Namen und ein Schicksal zu erhalten.