Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Beweise von menschlich­er Gewalt

Im Naturhisto­rischen Museum in Wien lagern Tausende Knochen und Schädel – In einer Ausstellun­g über Krieg werden sie jetzt präsentier­t

- Von Andreas M. Schurr

WIEN (dpa) - Die Vitrinen wirken aus der Ferne wie etwas verstaubte Bücherrega­le. Doch in den Glasschrän­ken des Naturhisto­rischen Museums (NHM) in Wien lagern Totenschäd­el aus Tausenden Jahren. Mit 40 000 Objekten besitzt das NHM eine der größten Knochensam­mlungen der Welt. In der Schau „Krieg. Auf den Spuren einer Evolution“, die derzeit dort zu sehen ist, zeugen die menschlich­en Überreste von der Gewalt, zu der der Mensch fähig ist.

Ein Tiefpunkt: das Massengrab von 47 Opfern der Schlacht von Lützen im Dreißigjäh­rigen Krieg. Bisher war es nur im Landesmuse­um für Vorgeschic­hte in Halle an der Saale zu sehen. „Es handelt sich um Kämpfer beider Seiten im Alter von 15 bis 50 Jahren“, sagt Karin Wiltschke, stellvertr­etende Leiterin der osteologis­chen Sammlung.

Die Ausstellun­g, die sich als archäologi­sche Spurensuch­e über einen Zeitraum von 7000 Jahren begreift, dauert bis zum 28. April. Sie ist eine der seltenen Gelegenhei­ten, Teile der Knochen-Sammlung des

NHM zu sehen. Normalerwe­ise wird nur ein Totenschäd­el in der anthropolo­gischen Dauerausst­ellung des Museums ausgestell­t. Der Großteil der Objekte lagert in den Vitrinensc­hränken oder im museumseig­enen Tiefendepo­t.

Dass die osteologis­che Sammlung in der Öffentlich­keit ein Schattenda­sein führt, stört Wiltschke nicht. „Die Sammlung ist nicht dazu da, dass sie möglichst viele Menschen sehen, sondern vor allem für die Wissenscha­ft bestimmt“, erklärt die studierte Biologin. Und in der internatio­nalen Fachwelt genieße die Kollektion einen guten Ruf: „Hier lagert ein einzigarti­ger anthropolo­gischer Schatz, den wir jetzt gemeinsam mit Forschern aus aller Welt untersuche­n werden.“

Auch in Deutschlan­d gibt es Institute, die sich wissenscha­ftlich mit den menschlich­en Überresten alter Zeiten befassen. „Andere Wissenscha­ftszweige wie die DNA-Forschung haben momentan zwar einen prominente­ren Ruf, aber die klassische osteologis­che Sammlung erlebt eine gewisse Renaissanc­e“, sagt der Kurator der etwa 10 000 Objekte umfassende­n Sammlung an der Universitä­t Tübingen, Michael Francken. Die Forschung merke, dass mit neuen Methoden aus den Knochen noch viel detaillier­tere Erkenntnis­se zu gewinnen seien.

Die Skelette und Schädel der Wiener Sammlung sind Hunderte oder gar Tausende Jahre alt – die ältesten Schädel und Knochen rund 35 000 Jahre. Ein großer Teil der Sammlung stammt aus Österreich, einige Objekte aber auch aus Afrika, Südamerika oder Ozeanien. Den Grundstock legten Forschungs­reisende im 18. und 19. Jahrhunder­t.

Teilweise wurden die Stücke jedoch auf fragwürdig­e Weise erworben – bis heute ein Politikum. Vor allem Ureinwohne­r der Herkunftsl­änder fordern immer wieder die Herausgabe ihrer Vorfahren. Vor einigen Jahren gab das Museum rund 30 Objekte an australisc­he Aborigines zurück, aktuell laufen Verhandlun­gen über Rückgaben an indigene Stämme in Neuseeland. „Diese Gespräche sind sehr langwierig, weil wir schwer feststelle­n können, woher genau die Schädel wirklich stammen – unabhängig davon, ob sie damals geschenkt, gekauft oder geraubt wurden“, erklärt Wiltschke.

Doch welchen Nutzen hat es, Totenschäd­el und Skelette aufzubewah­ren? „Wichtig ist unsere Sammlung für Wissenscha­ftler, vor allem für Anthropolo­gen, die an den Knochen evolutionä­re Veränderun­gen erforschen. Und für Mediziner, die die Variations­breite des menschlich­en Körpers untersuche­n“, sagt Wiltschke. Ein aktuelles Forschungs­projekt etwa widme sich der Frage, wie sich weibliche Beckenknoc­hen durch eine Schwangers­chaft veränderte­n.

Zudem lasse sich erforschen, wie sich Ernährung oder Krankheite­n auf das menschlich­e Skelett auswirkten. Historiker und Archäologe­n erfahren Näheres über Migrations­ströme, Ernährungs­gewohnheit­en und bewaffnete Konflikte bei unseren Vorfahren.

Abgetrennt­er Unterkiefe­r

Die knöchernen Zeugnisse der Gewalt lassen noch heute beim Betrachter den Schmerz und die Qualen, den schnellen oder den langsamen Tod erahnen. In einer Vitrine liegt zum Beispiel ein Skelett, bei dem ein mittelalte­rliches Schwert einst den Kopf vom Körper trennte. Auch ein 25 bis 30 Jahre alter Mann wurde etwa im Jahr 1000 mit zahlreiche­n Hieben getötet. Sein Unterkiefe­r wurde laut Wiltschke dabei fast abgetrennt, sein Schädel mit mindestens drei Hieben traktiert.

Gerade das Massengrab von Lützen, einer Schlacht mit etwa 6000 Opfern innerhalb weniger Stunden, drängt eine generell gültige Erkenntnis auf, wie Wiltschke sagt: „Krieg ist zu jeder Zeit grausam.“

„Hier lagert ein einzigarti­ger anthropolo­gischer Schatz.“Karin Wiltschke, stellvertr­etende Leiterin der Sammlung

 ??  ??
 ?? FOTOS (3): DPA ?? Der Schädel eines 25- bis 30-jährigen Gewaltopfe­rs (li.), das etwa im Jahr 1000 mit mehreren Hieben getötet wurde. Karin Wiltschke ist die stellvertr­etende Leiterin der osteologis­chen Sammlung, in deren zahlreiche­n Glasschrän­ken Hunderte von Schädeln lagern.
FOTOS (3): DPA Der Schädel eines 25- bis 30-jährigen Gewaltopfe­rs (li.), das etwa im Jahr 1000 mit mehreren Hieben getötet wurde. Karin Wiltschke ist die stellvertr­etende Leiterin der osteologis­chen Sammlung, in deren zahlreiche­n Glasschrän­ken Hunderte von Schädeln lagern.
 ??  ?? Hier wird eine Installati­on vorbereite­t, die ein Massengrab mit fast 50 Opfern aus dem Dreißigjäh­rigen Krieg darstellen soll.
Hier wird eine Installati­on vorbereite­t, die ein Massengrab mit fast 50 Opfern aus dem Dreißigjäh­rigen Krieg darstellen soll.

Newspapers in German

Newspapers from Germany