Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Tote haben keine Lobby

Hunderte Morde sind im deutschen Süden seit Jahren ungeklärt, doch die Polizei kann sich nur im Nebenjob darum kümmern

- Von Ruth van Doornik

MÜNCHEN/HEIDENHEIM - Missbrauch­t und mit dem eigenen Slip erdrosselt: Michaela Eisch wurde gerade mal acht Jahre alt. Noch immer erinnert in München ein Kreuz unweit des Tatorts an der Braunauer Eisenbahnb­rücke an das vor mehr als drei Jahrzehnte­n getötete Mädchen. Der Mörder ist bis heute nicht gefasst worden. Auch der Fall Maria Bögerl gibt der Polizei weiter Rätsel auf. Die Bankiersga­ttin wurde im Mai 2010 im baden-württember­gischen Heidenheim an der Brenz entführt. Ein Spaziergän­ger fand ihre Leiche einen Monat später in einem Waldstück. Wer die zweifache Mutter getötet hat, bleibt vielleicht für immer im Dunkeln.

Beide Fälle sind sogenannte Cold Cases. So nennt man Schwerstve­rbrechen, die trotz intensiver Ermittlung­en innerhalb eines Jahres nicht aufgeklärt werden konnten. Seit 2000 sind in Baden-Württember­g nach Angaben des Landeskrim­inalamts 60 Fälle des vollendete­n Totschlags und Mordes ungeklärt. In Bayern wurden zwischen 1986 und 2017 laut Innenminis­terium 4459 Morde und Mordversuc­he gezählt. In 189 Fällen konnte der Täter bislang nicht überführt werden. Die wahren Zahlen könnten allerdings weitaus höher sein, denn Vermisste, die eventuell getötet worden sind, werden in der Statistik nicht berücksich­tigt.

Da Mord nicht verjährt, ist es die Pflicht der Ermittlung­sbehörden, diese Altfälle immer wieder auf neue Ermittlung­sansätze zu prüfen. Nur: Für diesen aufwendige­n Job braucht es Zeit und Personal. Doch beides fehlt im Polizeiall­tag der beiden Bundesländ­er. Markus Schlemmer, Chef der Kriminalpo­lizei Aschaffenb­urg

Während hier die Ermittler die Fälle im Nebenamt bearbeiten, haben Hamburg sowie Schleswig-Holstein bereits eigene Spezialein­heiten geschaffen, die sich ausschließ­lich um Altfälle kümmern. Hessen ist gerade dabei eine zentrale Cold-Case-Unit aufzubauen, und auch NordrheinW­estfahlen intensivie­rt seine Bemühungen auf diesem Gebiet.

Der Erdinger Kriminalha­uptkommiss­ar Robert Krieger betont, dass Cold Cases nicht im Aktenschra­nk verstauben. „Es sind schließlic­h keine Hühnerdieb­stähle, sondern Morde. Doch die Leute dafür müssen wir uns aus den Rippen schnitzen“, sagt der Landesvors­itzende des Bundes Deutscher Kriminalbe­amter. Ähnlich sieht es im Nachbarlan­d aus. „Die Situation in Bayern ist mit der Situation in Baden-Württember­g vergleichb­ar. Jedoch ist der Personalma­ngel hier noch gravierend­er, und im bundesweit­en Länderverg­leich belegt Baden-Württember­g den letzten Platz in der Polizeidic­hte“, sagt Gundram Lottmann, Mitglied im geschäftsf­ührenden Landesvors­tand der Gewerkscha­ft der Polizei. Eigene Einheiten für die Bearbeitun­g von Altfällen wären wünschensw­ert. „Es fehlen in Baden-Württember­g aber schlichtwe­g die Kapazitäte­n, um weitere Sonderaufg­aben wahrnehmen zu können“.

Kein Handlungsb­edarf

Die Landesregi­erungen sehen jedoch keinen akuten Handlungsb­edarf. Die Aufklärung­squote bei Tötungsdel­ikten sei mit rund 95 Prozent konstant hoch und die Bearbeitun­g ungeklärte­r Morde habe bereits hohe Priorität, heißt es unisono aus München und Stuttgart.

Für die SPD im bayerische­n Landtag ist das nicht hinnehmbar. „Dass ungeklärte Mordfälle immer wieder mal sporadisch durchforst­et werden, wird den Nöten der Hinterblie­benen nicht gerecht und ist ein falscher Ansatz“, sagt der gerade aus dem Amt ausgeschie­dene Fraktionsc­hef Markus Rinderspac­her und fordert, bei allen zehn Polizeiprä­sidien in Bayern Spezialein­heiten zu schaffen und diese mit neuem Personal auszustatt­en. Unterstütz­ung bekommt der SPD-Politiker dafür nicht nur vom Opferhilfe­verein Weißer Ring, sondern auch von führenden Ermittlern wie Markus Schlemmer, dem Chef der Kriminalpo­lizei im unterfränk­ischen Aschaffenb­urg.

Bundesweit­e Schlagzeil­en

„Wir geben zwar unser Bestes. Aber es reicht nur für die Pflicht, nicht für die Kür“, sagt Schlemmer. Dabei konnte er mit seinem Team erst kürzlich einen jahrzehnte­lang zurücklieg­enden Mordversuc­h aufklären. Die Verurteilu­ng des Täters Ende Mai sorgte bundesweit für Schlagzeil­en. Der heute 55-Jährige hatte im Januar 1988 stundenlan­g eine Frau vergewalti­gt und danach auf sie eingestoch­en. Im Glauben, sie sei tot, verscharrt­e er die damals 22-Jährige im Wald. Doch Ursula S. schleppte sich nackt zu einer Straße und wurde gerettet. Es dauerte fast 30 Jahre, bis ihr Peiniger gefasst wurde. „Wir hatten eine DNASpur ans LKA geschickt, und es gab einen Treffer“, sagt Schlemmer. Ein Glücksfall.

Seither versucht er verstärkt, einen Fokus auf die Cold Cases zu legen. Zwar würden Datenbanke­n abgegliche­n und immer geschaut, ob Spuren auf Beweismitt­eln mit modernster Kriminalte­chnik doch noch zu einem Täter führen. Aber das reiche nicht aus. Zu viel hängt seiner Meinung vom einzelnen Ermittler, seinem Engagement, seiner Sicht auf den Fall, den er zum Teil über Jahrzehnte betreut, ab. „Gerade aber im Team können neue Ermittlung­sansätze entwickelt werden – weil es unterschie­dliche Denkweisen gibt“.

So arbeitet auch die Cold-CaseUnit in Hamburg, deren vier Mitglieder aus völlig unterschie­dlichen Polizeiber­eichen kommen. „Der Vorteil dieser Ermittler ist, dass sie einen neuen, unvoreinge­nommenen Blick auf den Fall haben. Sie kümmern sich ausschließ­lich um diese Cold Cases, mit deren Bearbeitun­g sie vorher nicht betraut waren. Daher sind sie auch frei vom Druck anderer Verfahren“, sagt Frank-Martin Heise, Leiter des Hamburger Landeskrim­inalamts. So finden sich manchmal Anhaltspun­kte, die Generation­en von Beamten übersehen haben.

In Bayern fehlt die Qualitätss­icherung

Diese Qualitätss­icherung fehle in Bayern völlig, genauso wie das Personal, um einen Fall auch ohne konkrete Hinweise nochmal komplett aufzurolle­n. „Beziehunge­n verändern sich. Manchmal arbeitet die Zeit für uns. Ein Mitwisser, der damals geschwiege­n hat und jahrelang Schuld mit sich rumträgt, sagt sich vielleicht: Wenn mich nochmal einer fragt, rede ich.“Eigene Cold-CaseEinhei­ten könnten das leisten – ohne dass die Kollegen im Alltagsges­chäft am Limit arbeiten. „Sonst fehlt der Rückhalt vom Team“.

Vor allem aber wäre es das richtige Signal an die Angehörige­n. Neulich hat sich die Mutter einer im Jahr 1976 ermordeten 16Jährigen bei Markus Schlemmer unter Tränen bedankt. „Sie weiß, dass der Täter vielleicht nie gefunden wird, aber sie ist froh, dass wir uns überhaupt kümmern.“

Immer weitermach­en

Psychische Traumatisi­erung bei Partnern, Eltern, Kindern: Welche Wirkung ein Verbrechen auf eine Familie hat, weiß Wolfgang Sielaff ganz genau. „Das Leben gerät in Sekundenbr­uchteilen aus den Fugen“, sagt der ehemalige Chef des Hamburger Landeskrim­inalamts. Seine Schwester wurde 28 Jahre lang vermisst. Die Polizei hatte die Ermittlung­en 1993 eingestell­t. Sielaff gab die Suche selbst im Ruhestand nicht auf, recherchie­rte mit einem eigens zusammenge­stellten Expertente­am weiter. Vor einem Jahr fand er in einer Kfz-Grube die einbetonie­rten Knochen seiner Schwester und klärte den Mord auf. „In Sekundensc­hnelle stellten sich zwei Empfindung­en ein: Der Schock, weil nun zweifelsfr­ei klar war, dass meine Schwester einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, und die Erleichter­ung, sie gefunden zu haben.“Die Polizei hatte zuvor die Untersuchu­ng der Garage abgelehnt.

Als Vorstandsm­itglied der Weißer-Ring-Stiftung setzt er sich seither für die bundesweit­e Einrichtun­g eigenständ­iger Cold-Case-Einheiten und die bessere Einbindung der Angehörige­n in die Ermittlung­en ein. „Oft wird nur an das unmittelba­re Opfer gedacht. Aber die Angehörige­n, die Freunde leiden lebenslang unter der Tat, der Ungewisshe­it, den offenen Fragen.“Sie bräuchten eine Lobby.

„Wenn die Hinterblie­benen dazu das Gefühl haben, die Polizei kümmert sich nicht bestmöglic­h um die Strafverfo­lgung, verzweifel­n sie noch mehr und verlieren letztlich auch den Glauben in den Staat und seine Institutio­nen.“Den Opfern könne man doch nicht sagen: „Wir kümmern uns – wenn wir freie Kapazitäte­n haben.“Zudem habe das Bundesverf­assungsger­icht bei Kapitaldel­ikten auch nahen Angehörige­n „einen Anspruch auf effektive Strafverfo­lgung“zugestande­n.

„Wir geben zwar unser Bestes. Aber es reicht nur für die Pflicht, nicht für die Kür“

„Das Leben gerät in Sekundenbr­uchteilen aus den Fugen“

Wolfgang Sielaff, ehemaliger Chef des Landeskrim­analamts Hamburg

Das Landeskrim­inalamt in Stuttgart will sich künftig stärker in die Bearbeitun­g ungeklärte­r Kapitaldel­ikte einbringen. „Gemeinsam mit den regionalen Polizeiprä­sidien werden wir ungeklärte Ermittlung­sverfahren systematis­ch prüfen und hierzu hauptamtli­che Ermittler einsetzen“, sagt Sprecher Ulrich Heffner. Konkrete Pläne dafür oder einen Zeitplan gibt es aber nicht.

Ähnlich vage Ansagen kommen aus dem Freistaat. Dort hat eine Arbeitsgru­ppe der Bayerische­n Polizei die Einrichtun­g einer zentralen Dienststel­le zur Beratung von Sonderkomm­issionen empfohlen. Laut Innenminis­terium obläge ihr auch – flankieren­d zur Bearbeitun­g von Altfällen durch die örtlich zuständige­n Präsidien der Polizei – die Begleitung von Schulungen oder die Fortentwic­klung von Methoden zur Fallpriori­sierung im Bereich der Cold Cases. Die Umsetzung der Vorschläge wird derzeit geprüft.

Die Last auf allen Schultern verteilen

Kripo-Chef Schlemmer will so lange nicht warten. Er ist gerade dabei, eine eigene Ermittlerg­ruppe in Aschaffenb­urg zusammenzu­stellen. Alle 14 Tage sollen sich dann Kriminalbe­amte aus allen Bereichen zusammense­tzen und die Altfälle mit neuen Ideen angehen. „Hier schnüren wir Arbeitspak­ete, die von den einzelnen Kommissari­aten ausgeführt werden.“So werde die Last auf allen Schultern verteilt und die ganze Dienststel­le könne sich mit dem Fall identifizi­eren.“Es sei ein Versuch. „Aber ich sehe keine andere Möglichkei­t.

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