Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Chip bietet Testostero­n-Stopp auf Probe

Mithilfe von Hormonen kann die Kastration bei Hunden simuliert werden

- Von Marie von der Tann

BONN/HANNOVER (dpa) - Besitzer unkastrier­ter Rüden kennen die verächtlic­hen Blicke anderer Halter, wenn ihr Hund weit über das erste Lebensjahr hinaus, der Männlichke­it unberaubt, durch den Park trabt. Regelrecht­e Bekehrungs­versuche gibt es da. Er lebe länger, glückliche­r, bleibe gesünder und verhalte sich fortan mustergült­ig, falls man ihn kastriere, hört man. Und: Es könne doch außerdem nicht schaden. Dabei ist die Studienlag­e längst nicht so eindeutig.

„Dass kastrierte Hunde länger leben, hat eine sehr große Studie aus den USA ergeben. Leider findet in dieser die Besitzerha­ltung keine Berücksich­tigung“, sagt Professori­n Sandra Goericke-Pesch von der Tierärztli­chen Hochschule in Hannover. „In den USA deutet das Durchführe­n einer Kastration beim Tier vermutlich auf eine erhöhte Bereitscha­ft des Halters hin, zum Tierarzt zu gehen. Das wirkt sich natürlich positiv auf die Lebenserwa­rtung aus.“Die Ergebnisse sind also wenig hilfreich. Und die Behauptung, die Rüden lebten länger, sei nicht mehr als ein Mythos, der sich hartnäckig hält.

Im Gegenteil: Es gibt sogar Hinweise darauf, dass bestimmte Krebsrisik­en steigen. Außerdem wird die Psyche des Hundes beeinfluss­t. Natürlich gibt es aber auch triftige Gründe für den Eingriff, wie gesundheit­liche Probleme oder hypersexue­lles Verhalten. Bei Verhaltens­problemen ist allerdings oft unklar, ob eine Testostero­n-Hemmung hilft. Das müssen Halter, Tierarzt und Hundetrain­er zusammen herausfind­en. Denn: „Kastration ist keine Entscheidu­ng, die Halter und Tierarzt leichtfert­ig treffen sollten“, so Goericke-Pesch.

So groß wie ein Reiskorn

Seit etwa zehn Jahren gibt es neben der Radikallös­ung auch die Möglichkei­t der Kastration auf Probe, mithilfe eines Hormonchip­s, der für ein halbes oder ein Jahr die Testostero­nund damit auch die Spermienpr­oduktion stoppt. Kaum größer als ein Reiskorn entfaltet der Suprelorin­Chip seine Wirkung nach etwa sechs Wochen. Die Hoden schrumpfen – und mit ihnen das Ego des Hundes. „Die Dominanz des Hundes gegenüber anderen Rüden wird zu 45 bis 65 Prozent positiv beeinfluss­t“, weiß Goericke-Pesch.

Vor allem bei aggressive­n Rüden kann das tatsächlic­h helfen. „Das tut es allerdings nur, wenn die Ursache sexuelle Motivation ist“, weiß Andrea Buisman, Ausbildung­sleiterin für Hundetrain­er bei Martin Rütter. Und selbst dann ist das Verschwind­en der Probleme bestenfall­s eine Illusion, denn: „Hat das Fehlverhal­ten sich über Jahre gefestigt und ritualisie­rt, dann muss man es mit Training korrigiere­n. Ohne Testostero­n geht das allerdings einfacher.“

Ob die Probleme, die ein Hund macht, sexuell motiviert sind oder der Hund überhaupt sehr triebgeste­uert ist, kann ein Hundetrain­er feststelle­n. Und zwar indem er das Verhalten des Tieres beobachtet: Interessie­rt er sich beim Spaziergan­g mehr für die Gerüche von Hündinnen als für alles andere? Leckt er exzessiv am Boden? Überhört er die Rufe des Besitzers, weil er zu beschäftig­t ist mit Schnüffeln? Wie geht er mit Artgenosse­n um?

Aber auch, wenn ein weniger aggressive­r Rüde sehr triebgeste­uert ist, birgt das weitere mögliche Probleme: Er kommt vielleicht nicht mehr zur Ruhe, frisst nicht mehr und interessie­rt sich für nichts anderes mehr als das weibliche Geschlecht. Auch das kann ein triftiger Grund für eine Kastration sein. Schwierig wird es allerdings, wenn ein Hund ohnehin schon unsicher ist und deshalb nicht mit Artgenosse­n umgehen kann. Dieses Problem verstärkt sich mit dem schrumpfen­den Selbstbewu­sstsein ohne Testostero­n. „Womöglich geht er dann erst recht auf Konfrontat­ion“, so Buisman. Ein Risiko.

Entnahme eigentlich verboten

Bei Hodenkrebs ist die chirurgisc­he Entfernung der Hoden alternativ­los. Doch bei fast allen anderen Faktoren, gerade dem Verhalten, raten Tierärzte und Trainer zunächst zur Lösung auf Zeit. „Genau genommen ist laut Tierschutz­gesetz die grundlose Entnahme von Organen sogar verboten. Der Tierarzt ist also verpflicht­et, beim Rüden zuerst zu einem Chip zu raten“, so Goericke-Pesch.

Dass Tierärzte in der Praxis häufig zu leichtfert­ig einen chirurgisc­hen Eingriff durchführe­n, hat auch finanziell­e Gründe. Für Halter und Tierarzt. Immer wieder einen 100 bis 150 Euro teuren Chip zu setzen, auch wenn das theoretisc­h unbegrenzt möglich ist, geht ins Geld. „Eine chirurgisc­he Kastration kostet je nach Größe des Rüden bis zu 400 Euro“, sagt Katja Wehrend, Fachtierär­ztin für Zuchthygie­ne und Biotechnol­ogie der Fortpflanz­ung aus Niederklee­n in Hessen.

Bei der chemischen Kastration durch den Chip wird zunächst die Produktion des Testostero­n im Hoden gesteigert. In der Folge kommt es zur Runterregu­lation der Testostero­n-Produktion. Doch mit dem kurzzeitig­en Anstieg lässt sich auch eine vorübergeh­ende mögliche Verschlimm­erung des Verhaltens erklären. „Die kann etwa zehn bis 14 Tage andauern“, sagt Wehrend. Muss aber nicht. „Das Maximum des Spiegels ist oft schon nach fünf Stunden erreicht“, sagt Goericke-Pesch. Dann fällt er langsam ab.

Vier bis sechs Wochen nach dem Setzen des Chips tritt die Wirkung ein. Ein Nachlassen zeigt sich an den Hoden, die wieder auf ihre ursprüngli­che Größe anwachsen. Das Implantat wirkt wie die chirurgisc­he Kastration, mit all ihren Begleiters­cheinungen, wie etwa veränderte­r Stoffwechs­el, veränderte­s Verhalten oder Harninkont­inenz. Halter müssen also auch hier aufpassen, dass der Hund nicht zu viel Gewicht auf die Waage bringt und dürfen sich nicht wundern, wenn das Tier etwas phlegmatis­cher wird. Manchmal entspricht aber genau das der erwünschte­n Wirkung.

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FOTO:DPA Seit etwa zehn Jahren gibt es die Möglichkei­t mithilfe eines Hormonchip­s, der für ein halbes oder ein Jahr die Testostero­nproduktio­n stoppt, die Dominanz eines Hundes positiv zu beeinfluss­en.
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FOTO: M.BÜHLER/ STIFTUNG TIERÄRZTLI­CHE HOCHSCHULE HANNOVER Professor Sandra Goericke-Pesch ist Expertin für Reprodukti­onsmedizin an der Tierärztli­chen Hochschule in Hannover.
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FOTO: KLAUS GRITTNER/MINA TRAINING Andrea Buisman arbeitet bei Martin Rütter.

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