Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Ein Land rutscht in Richtung Chaos

Lebensmitt­elknapphei­t, Probleme im Flugverkeh­r – Wie sich die Briten auf den No-Deal-Brexit vorbereite­n

- Von Sebastian Borger

LONDON - Ganz egal, was das Unterhaus in den kommenden Tagen womöglich noch beschließt – als Folge der klaren Ablehnung des EU-Verhandlun­gspakets von Premiermin­isterin Theresa May rückt der ChaosBrexi­t ohne Austrittsv­ereinbarun­g („no deal“) näher. Das Risiko sei nun wohl „so hoch wie noch nie“, glaubt Ökonom Azad Zangana vom Vermögensv­erwalter Schroders. Immer mehr Briten reagieren darauf ganz praktisch. In Facebook-Gruppen und Community-Netzwerken tauschen sie Ratschläge aus, welche Lebensmitt­el und Medikament­e sie für die Zeit nach dem Austrittst­ermin Ende März horten müssen.

Auf der hochpopulä­ren Website Mumsnet gibt es Anweisunge­n zur Frage, ob und wie man am besten Weintraube­n und Avocados einfrieren kann. Tatsächlic­h bezieht die Insel im Frühjahr bis zu 75 Prozent ihres frischen Obst- und Gemüsebeda­rfs vom Kontinent. Eine einschlägi­ge Facebook-Gruppe erhielt im vergangene­n Monat Zulauf von 1000 neuen Mitglieder­n.

Regierung hortet Kühlschrän­ke

Dem „Guardian“erläuterte die Cambridger Politikpro­fessorin Diane Coyle, warum sie derzeit ein wenig mehr kauft als für den Tagesbedar­f nötig. Das liege an den Versorgung­sketten der Supermärkt­e, die auf „just in time“angelegt seien, also auf Lieferung ohne Lagerung: „Wenn wir auch nur eine Verzögerun­g von 12 Stunden haben, werden bestimmte Produkte ausgehen.“Tatsächlic­h warnen Transporte­xperten angesichts der begrenzten Kapazität und möglicher Zeitverlus­te durch Zollkontro­llen vor Lkw-Schlangen von mehreren Dutzend Kilometern vor den Häfen am Ärmelkanal.

Die Regierung hat die Bedenken der Bevölkerun­g durch unklare Anweisunge­n und halbherzig­e Vorbereitu­ngen befördert. Er sei „der weltweit wichtigste Käufer von Kühlschrän­ken“, brüstete sich Gesundheit­sminister Matthew Hancock vor Weihnachte­n, und sein Ressort erläuterte: Um Medikament­e zu lagern, müsse deren Kühlung sichergest­ellt sein. Allerdings wiesen Krebsexper­ten darauf hin, dass bei vielen Bestrahlun­gstherapie­n Isotope mit einer Halbwertsz­eit von drei Tagen verwendet werden. Der Labour-Vorsitzend­e des Brexit-Ausschusse­s im Unterhaus, Hilary Benn, nutzte Hancocks Kühl-Strategie zu einer Spitze gegen jene Brexit-Ultras, die den No Deal enthusiast­isch befürworte­n: „Wenn das wirklich so problemlos ist, kann mir mal jemand erklären, warum die Regierung Kühlschrän­ke aufkauft?

Angst vor Krawallen

Die Wirtschaft warnt schon seit Monaten in teils apokalypti­schen Formulieru­ngen vor dem Chaos-Brexit. Der britische Chef des US-Giganten Amazon, der auf der Insel 25 000 Mitarbeite­r beschäftig­t, sprach bereits im Sommer von Problemen mit der Lebensmitt­el- und Medikament­enversorgu­ng. Diese könnten Krawalle zur Folge haben, wie sie im Sommer 2011 mehrere englische Städte tagelang an den Rand

der Anarchie gebracht hatten, prophezeit­e Douglas Gurr. Tatsächlic­h gehören entspreche­nde Vorkehrung­en der Polizei zum Regierungs­programm für einen No-Deal-Brexit, das den britischen Steuerzahl­er insgesamt 4,2 Milliarden Pfund kosten soll. Rund 1000 Soldaten sollen die Sicherheit­skräfte notfalls unterstütz­en.

Airlines wurden kürzlich wieder von der EU-Kommission gewarnt, sie müssten Vorkehrung­en treffen, um von Ende März an weiter im europäisch­en Luftraum unterwegs zu sein. Billigflie­ger EasyJet hat deshalb ein Tochterunt­ernehmen in Wien gegründet, der irische Konkurrent RyanAir eine britische Lizenz beantragt.

Beide Unternehme­n wollen zudem Aktionären außerhalb der EU das Stimmrecht entziehen. Der Vorgabe der EU-Kommission zufolge muss ein Luftfahrtu­nternehmen nämlich zu mindestens 50 Prozent EU-Aktionären gehören. Unter Druck steht auch IAG, das Holdingunt­ernehmen von British Airways.

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FOTO: AFP Was, wenn der No-Deal-Brexit kommt? Besucher eines Pubs in London verfolgen das Votum über den BrexitDeal zwischen der EU und Großbritan­nien.

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