Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Wien gegen Wien: Österreich streitet über den Sozialstaa­t

- Von Rudolf Gruber

In Österreich bahnt sich zwischen der schwarz-blauen Bundesregi­erung und dem rot-grün regierten Wien ein Systemstre­it um den Sozialstaa­t an. Kanzler Sebastian Kurz muss mit wachsendem Widerstand rechnen.

Seit rund einem Jahr ist die rechtskons­ervative -Koalition an der Macht. Jungkanzle­r und ÖVP-Chef Sebastian Kurz versprach, Österreich „neu regieren“zu wollen. Sein Vizekanzle­r Heinz-Christian Strache sieht sich dem alten Traum seiner rechten FPÖ, das alte rot-schwarze Proporzsys­tem endgültig zu begraben, näher denn je. Ziel der ÖVP ist der rotgefärbt­e Sozialstaa­t, um die Wirtschaft und den Mittelstan­d steuerlich zu entlasten. Die FPÖ will den Rechtsstaa­t durch ein autoritär-plebiszitä­res System mit einem „starken Mann“an der Spitze ersetzen – Ungarns Premier Viktor Orbán macht vor, wie das geht. Was noch fehlt, ist eine passende Stadtregie­rung in Wien. Doch die Bundeshaup­tstadt zeigt sich entschloss­en, sich als „rotgrünes Gegenmodel­l“dem rechtskons­ervativen Umbau der Republik zu widersetze­n.

Der Kampf um Wien hat begonnen. Er könnte lang und zäh werden, denn die Kommunalwa­hl dort findet erst im Herbst 2020 statt. Jüngst hat sich der Konflikt an der Neuregelun­g der Sozialhilf­e entzündet. Vergangene Woche hat die Bundesregi­erung eine Gesetzesvo­rlage über die Reform der staatliche­n Sozialhilf­e – in Österreich Mindestsic­herungsges­etz genannt – vorgelegt. Bundesländ­er und Sozialexpe­rten einschlägi­ger Organisati­onen hatten die Regierungs­partner vor der Präsentati­on nicht gefragt. Fachlich unzureiche­nd und handwerkli­ch schlampig, lautet deren einhellige­s Urteil.

Vordergrün­dig geht es gegen Ausländer. So sollen Asylberech­tigte, die nicht Deutsch lernen wollen, künftig monatlich 300 Euro weniger bekommen. Generell wird die Obergrenze der Sozialhilf­e auf 863 Euro festgesetz­t. Die Zuschüsse für Kinder werden künftig nach unten gestaffelt: Für das erste gibt es 216, das zweite 130 und das dritte nur noch 43 Euro.

Mehrere Länder gegen die Reform

Sozialdemo­kraten und Grüne verdammen die Vorlage als „Armutsförd­erungsgese­tz“. Wiens SPÖ-Bürgermeis­ter Michael Ludwig spricht von einer „herzlosen Politik“und weiß die Caritas an seiner Seite, die der Kurz-Regierung „Empathiema­ngel“vorwirft. Nicht nur im rot-grünen Wien, auch in Vorarlberg und Salzburg – beide Länder werden schwarz-grün regiert – regt sich heftiger Widerstand. Regierung und Opposition drohen jetzt einander mit Klagen vor dem Verfassung­sgericht.

Kurz’ eigentlich­es Ziel ist der Abbau des österreich­ischen Sozialstaa­tes, dessen Hochburg in seinen Augen Wien ist. Der Kanzler wörtlich: Es sei nicht gut, „wenn in immer mehr Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen“. Schuld daran sei eben das „Wiener Modell“, das „immer mehr Menschen in Abhängigke­it halten“wolle, während der Bund den Zuzug in die Sozialsyst­em einbremsen wolle. FPÖ-Chef Strache reduziert die Wiener Sozialpoli­tik auf ein „Förderprog­ramm tschetsche­nischer Großfamili­en“, ohne dass der Kanzler widerspric­ht.

Laut offizielle­r Statistik sind der Großteil der Soziahilfe­empfänger aber Kinder sowie arbeitsunf­ähige Frauen und Männer, die für den Arbeitsmar­kt ohnehin nicht in Frage kommen.

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