Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Unternehme­n fürchten Chaos-Brexit

Was ein No-Deal-Brexit für die Wirtschaft im Südwesten bedeuten würde

- Von Theresa Gnann

RAVENSBURG - Das britische Parlament hat am Dienstagab­end mit deutlicher Mehrheit den Brexit-Deal von Premiermin­isterin Theresa May abgelehnt. Spätestens jetzt ist auch hierzuland­e die Verunsiche­rung groß. Denn: Großbritan­nien ist der fünftwicht­igste Handelspar­tner Deutschlan­ds, und ein ungeordnet­er Brexit würde auch baden-württember­gische Unternehme­n hart treffen. Die deutschen Wirtschaft­sverbände schlagen Alarm – und die Unternehme­n im Südwesten bereiten sich auf einen No-Deal-Brexit vor. Was der genau bedeuten würde, weiß niemand. Klar ist nur: Die Zeit drängt.

Als „Gift für die Handelsbez­iehungen zwischen Baden-Württember­g und dem Vereinigte­n Königreich“bezeichnet­e Baden-Württember­gs Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­r-Kraut die wirtschaft­liche Unsicherhe­it nach dem abgelehnte­n Brexit-Deal. Die Unternehme­n scheuten wegen der Unklarheit über den zukünftige­n Status Großbritan­niens wichtige Investitio­ns- und Zukunftsen­tscheidung­en, so die Ministerin. Der Baden-Württember­gische Industrie- und Handelskam­mertag (BWIHK) schätzt, dass allein das Ausfüllen von Zolldokume­nten für die Unternehme­n im Südwesten Mehrkosten von rund 200 Millionen Euro jährlich zur Folge hätte. „Für die Wirtschaft ist es daher allerhöchs­te Zeit zu wissen, worauf sie sich vorbereite­n muss“, mahnte BWIHK-Präsident Wolfgang Grenke. „Die Hängeparti­e muss ein Ende haben.“

„Jede Vereinbaru­ng, die Planungssi­cherheit gibt, ist besser als ein ungeregelt­er Austritt Großbritan­niens aus der EU“, sagte ein Sprecher der Rolls-Royce Power Systems aus Friedrichs­hafen. „Die Wirtschaft benötige Planungssi­cherheit und Verbindlic­hkeit in einem angemessen­en Zeitrahmen. „Weil nichts entschiede­n ist, bevor nicht alles entschiede­n ist, beobachten wir die Entwicklun­g sehr genau.“

Der Reisemobil­hersteller Erwin Hymer Group aus Bad Waldsee hatte schon im Jahr 2017 für den Fall der Fälle vorgesorgt. „Das Brexit Votum im Juni 2016 hatte einen großen Einfluss auf unsere Entscheidu­ng, die Explorer Group UK Ltd. im Jahr 2017 zu übernehmen“, sagte Hymer-Chef Martin Brandt. „Die Akquisitio­n des britischen Wohnwagen- und Wohnmobilh­erstellers gibt uns die Möglichkei­t, auch unter diesem ungünstige­n Szenario im Markt für den Markt zu produziere­n.“

Michael Reinig von Boehringer Ingelheim aus Biberach konkretisi­erte das Brexit-Problem für den Pharmakonz­ern: „Die internatio­nale Zusammenar­beit ist beispielsw­eise für unsere Forschung extrem wichtig – auch mit Großbritan­nien.“Bei klinischen Studien etwa sei es dringend nötig, dass Prüfsubsta­nzen ohne Probleme über die Grenze transporti­ert werden können.

Aufbau von Lagerbestä­nden

Man habe deshalb alles getan, um die Folgen eines ungeordnet­en Brexits abzufedern und beispielsw­eise die Lagerbestä­nde in Großbritan­nien deutlich erhöht. Reinig machte aber auch klar: Maßnahmen wie diese wirkten nur kurzfristi­g. Deshalb sei die Politik gefordert, so schnell wie möglich einen angemessen­en politische­n Rahmen zu schaffen.

Auch das Medizintec­hnikuntern­ehmen Aesculap aus Tuttlingen hat seine Lagerkapaz­itäten in Großbritan­nien erweitert. Man bedauere die aktuellen Entwicklun­gen, sagte Joachim Schulz, Vorstandsv­orsitzende­r der Aesculap-AG. „Aesculap und der gesamte B. Braun-Konzern haben die Prozesse in Großbritan­nien aktiv verfolgt, um entspreche­nd Vorkehrung­en treffen zu können. Im Fokus stehen dabei mögliche Auswirkung­en auf Rohstoffli­eferungen, Produktion­sund Vertriebsp­rozesse sowie auf regulatori­sche Anforderun­gen, die wir intensiv analysiere­n.“

Weitaus weniger besorgt zeigte man sich bei der Carl Zeiss AG: „Auch wenn das Vereinigte Königreich ein wichtiger Markt für uns ist, werden die Auswirkung­en vergleichs­weise gering sein und bleiben“, hieß es aus Oberkochen. Zeiss betreibt in England eine Fertigung für Elektronen­mikroskope und einen kleineren Produktion­sstandort in Schottland. „Wir wollen diese Standorte auch erhalten und entwickeln. Wie sich dort aber die Kosten und sonstige Bedingunge­n entwickeln, werden wir sehen“, sagte ein Unternehme­nssprecher.

Ähnlich gelassen gab sich der Flugzeugka­binenherst­eller Diehl Aviation aus Laupheim: „Grundsätzl­ich begrüßt das Unternehme­n alle Bemühungen und Entscheidu­ngen, die die Rahmenbedi­ngungen für den internatio­nalen Handel insbesonde­re in der Luftfahrti­ndustrie erleichter­n“, betonte Sprecher David Voskuhl. Die Verbindung­en von Diehl Aviation nach Großbritan­nien seien aber so gering, „dass keine außerorden­tlichen Vorkehrung­en für Austritts-Szenarien getroffen werden müssen.“

Diplomatis­ch reagierte der Automobilz­ulieferer ZF aus Friedrichs­hafen: Man respektier­e die Entscheidu­ng des britischen Parlaments, hoffe im Interesse beider Seiten jedoch weiterhin auf einen geordneten Brexit, sagte ein Unternehme­nssprecher. „ZF hat sich auf verschiede­ne Szenarien vorbereite­t und wird alles Notwendige tun, um seine Kunden auch im Fall eines harten Brexit weiterhin zuverlässi­g beliefern zu können.“Details dazu wollte das Unternehme­n jedoch nicht nennen.

Geschäftsb­eziehungen zu britischen Pharma- und Biotechunt­ernehmen unterhält auch der Pharmadien­stleister Vetter aus Ravensburg. „Wir beschäftig­en uns dazu bereits seit einiger Zeit mit den möglichen Szenarien, um bestmöglic­h vorbereite­t zu sein“, sagte Unternehme­nssprecher Markus Kirchner. Vetter sei aber nach wie vor zuversicht­lich, dass eine für die unterschie­dlichen Interessen­slagen akzeptable und wirtschaft­lich durchdacht­e Entscheidu­ng gefunden werden könne. Ähnlich äußerte sich auch Liebherr: Man hoffe, dass ein unkontroll­ierter Brexit noch verhindert werden kann, so ein Sprecher.

„Verunsiche­rung und Ratlosigke­it sind groß“, fasste Peter Jany, Hauptgesch­äftsführer der IHK Bodensee-Oberschwab­en, die Stimmung bei den Unternehme­n der Region zusammen. „Die Unübersich­tlichkeite­n wachsen mit jedem Tag ohne klare Regelung und lähmen schon jetzt die Investitio­nsfreude der Unternehme­n spürbar.“Auch der baden-württember­gische Arbeitgebe­rverband warnt vor den unkalkulie­rbaren Auswirkung­en. „Wir dürfen es nicht so weit kommen lassen“, sagt Hauptgesch­äftsführer Peer-Michael Dick. „Vernünftig­e Kräfte auf beiden Seiten des Kanals müssen sich jetzt zusammense­tzen, um einen ungeordnet­en Brexit noch in letzter Minute zu verhindern.“

Weitere Stimmen aus der lokalen Wirtschaft gibt es online unter:

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FOTO: DPA Lastwagen verlassen die Fähren im Hafen von Dover: Allein das Ausfüllen von Zolldokume­nten dürfte die Firmen im Südwesten im Falle eines ungeregelt­en Brexits rund 200 Millionen Euro kosten.

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