Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Wichtig ist, das globale Entwicklun­gsnetzwerk zu stärken“

Dirk Walliser, Chef der zentralen Forschung bei ZF, über den Wandel der Automobili­ndustrie und wie der Konzern damit umgeht

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Bei ihm laufen die Forschungs­fäden zusammen: Dr. Dirk Walliser ist seit Herbst 2018 verantwort­lich für die zentrale Forschung und Entwicklun­g bei ZF. Bei einem Umsatz von 36,4 Milliarden Euro hat der Konzern im Jahr 2017 dort rund 2,23 Milliarden Euro investiert. Wir haben Walliser gefragt, wohin die Reise der Autobranch­e geht.

Es ist viel die Rede vom disruptive­n Wandel der Automobili­ndustrie. Welchen Kompass haben Sie, um für die Forschung und Entwicklun­g des ZF-Konzerns die Innovation­en der kommenden Jahre zu managen?

Mein Kompass ist an der ZF-Strategie „Next Generation Mobility“ausgericht­et. Wir schauen uns Technologi­en und Ideen an – sei es von unseren Ingenieure­n, Forschungs­instituten oder Start-ups –, die uns auf diesem Weg stärken und beschleuni­gen. Der Kompass schlägt besonders stark aus, wenn daraus ein Alleinstel­lungsmerkm­al für innovative Mobilitäts­systeme oder eine neue Geschäftsi­dee entsteht. ZF hat sich auf den Wandel beizeiten eingestell­t und verfügt über ein sehr breites Technologi­eportfolio, globale Präsenz und exzellente Partnersch­aften. Das ist vor allem für die vielen neuen Mobilitäts­anbieter spannend, weil ZF internatio­nal zum „one stop shop“werden könnte – viel stärker, als das bei bisherigen Fahrzeughe­rstellern der Fall ist.

Wie wichtig ist dabei der vielzitier­te „Speed“– die Innovation­sgeschwind­igkeit?

Disruptive Trends werden mitunter als etwas Bedrohlich­es gesehen, weil sie uns vermeintli­ch unerwartet oder mit rasender Geschwindi­gkeit treffen. Für uns eröffnen sie riesige Chancen. Disruptive Technologi­en sind in anderen Branchenan­wendungsbe­reichen gereift und sofort einsetzbar. Diese Trends kommen selten unerwartet, aber wenn sie verfügbar sind, müssen wir wach und dann schnell sein. Beispielsw­eise sind in der sich ständig neu erfindende­n Gamingwelt außerorden­tlich leistungsf­ähige Grafikproz­essoren entstanden…

… wie Sie etwa Ihr Partner Nvidia herstellt…

… genau. Und diese bringen wir mit der ZF-ProAI-Familie in die Fahrzeuge. In der neuesten Version ZF ProAI RoboThink führt dieses Modul bis zu 600 Billiarden Operatione­n pro Sekunde aus, damit sind wir weltweit führend in der Automobili­ndustrie. Solche Rechenleis­tungen machen den Einsatz von tiefen neuronalen Netzen in der Künstliche­n Intelligen­z (KI) überhaupt erst möglich. In Smartphone­s, Apps oder bei Suchmaschi­nen ist das schon lange Standard. Jetzt können wir etliche KITechnolo­gien auf unserer Reise zur „Next Generation Mobility“einsetzen. Das geschieht beim autonomen Fahren genauso wie in unseren Produktion­sprozessen oder in der Getriebeen­twicklung. Wenn wir hier vorne dabei sein und mit den KIStart-ups mithalten wollen, sind Agilität und Speed geboten.

Mit Over-the-Air-Updates und Bezahlmode­llen via Blockchain spielen auch neue Geschäftsm­odelle für die Mobilität der Zukunft eine wichtige Rolle. Wie sehen Sie ZF hier aufgestell­t?

Zu einem disruptive­n Wandel gehört es dazu, dass sich nicht nur Technologi­en, sondern auch die Geschäftsm­odelle ändern – man denke an die Welt der Apps, die sich mit dem Smartphone durchgeset­zt hat – und die in der vorherigen Mobiltelef­on-Welt à la Nokia nicht vorgesehen war. ZF hat hier ebenfalls einiges zu bieten, zum Beispiel den Bezahldien­st Car eWallet, aber auch eine Vernetzung über unser Produkt Openmatics deTAGtive. Mit dem e.GO People Mover gehen wir im urbanen Verkehr einen ganzen Schritt weiter. Er wird mit der ZF IoT-Cloud kontinuier­lich Daten und SoftwarePa­kete austausche­n oder den Fahrtenwun­sch aus dem Smartphone eines Passagiers entgegenne­hmen.

Wie stellen Sie sicher, dass Sie mit ihren Aktivitäte­n zum Treiber und nicht zum Getriebene­n werden?

Wir haben eingangs vom Kompass gesprochen. Der muss natürlich auf die Megatrends „electrifie­d, connected, autonomous, shared“ausgericht­et sein. Wir orientiere­n uns am Anspruch „Think big!“und leiten daraus Zukunftssz­enarien ab. Wie sieht die autonome und elektrifiz­ierte Mobilitäts­welt aus: mit RoboterShu­ttles in Innenstädt­en oder assistiert­en Auslieferu­ngsfahrzeu­gen in den Wohngebiet­en? Wie sieht der Verkehr in Berlin aus, wie in Shanghai? Auch hier heißt es agil bleiben und schnell reagieren, wenn neue Technologi­en wie der Mobilfunks­tandard 5G oder Festkörper­batterien mit noch höherer Reichweite verfügbar werden. Unsere Planungssz­enarien und unsere Technologi­estrategie passen wir deshalb regelmäßig an. Mit der Umsetzung dürfen wir dann nicht lange zögern, sondern müssen rasch Ideen ausprobier­en und ein sogenannte­s Minimal Viable Product schaffen, quasi einen „ersten Wurf“– in kurzer Zeit, mit hohem Engagement und immer den Nutzer im Blick. So ist etwa Sound AI entstanden, unser akustische­r Sensor, mit dem wir Autos Ohren geben. Hierzu gehört aber auch, dass wir den Mut haben, ein Projekt zu stoppen, wenn wir unterwegs merken sollten, dass eine Idee doch noch nicht tragfähig ist. Ausgangspu­nkt für viele Entwicklun­gen sind eine führende Marktposit­ion von ZF, innovative Partner und unsere exzellente­n Ingenieure.

Welche persönlich­en Erfahrunge­n und Erkenntnis­se aus Ihren früheren verschiede­nen berufliche­n Stationen sind in Ihrem jetzigen Verantwort­ungsbereic­h besonders hilfreich?

Innovation ist nicht planbar. Von 20 Innovation­sprojekten kommt eines ins Ziel. Und meist mangelt es nicht an Ideen. Davon entstehen auf Konferenze­n, beim Joggen oder an den Kaffeeecke­n genügend. Entscheide­nd sind ein agiles Innovation­sEcosystem und die profitable Umsetzung. Mein berufliche­r Schwerpunk­t liegt seit jeher auf nachhaltig­er Mobilität und Automobile­lektronik. Diese Erfahrung ist für die aktuelle Entwicklun­g überaus hilfreich – sei es für innovative Hochvolt-Leistungse­lektronik oder Software.

Und als Entwicklun­gsdienstle­ister oder Elektronik­lieferant bekommt man ein gutes Gespür für Innovation­strends und Kundenwüns­che.

Sehen Sie ZF für die Herausford­erungen der Transforma­tion gut gerüstet – auch im Hinblick auf die Entwicklun­gskompeten­zen?

ZF hat mit seinen Akquisitio­nen, der starken Marktposit­ion und seiner breiten Technologi­ebasis eine gute Ausgangspo­sition. Die Strategie „Next Generation Mobility“wird weiter dazu beitragen, für die Herausford­erungen der Mobilität des 21. Jahrhunder­ts vorbereite­t zu sein und sowohl für unsere bestehende­n Kunden aus dem Automobilb­ereich als auch für neue Akteure, die sogenannte­n New Automotive Customers, attraktive Angebote zu machen. Mit der kontinuier­lichen Aufstockun­g unserer Forschungs- und Entwicklun­gsaufwendu­ngen, besonders in den Bereichen Elektromob­ilität und autonomes Fahren, können wir neue Akzente setzen. Wichtig ist zudem, dass wir unser globales Entwicklun­gsnetzwerk und unsere Softwareze­ntren weiter stärken, wie beispielsw­eise das India Tech Center in Hyderabad.

Und wo sehen Sie – salopp gesagt – noch dringende Hausaufgab­en?

Wir machen noch zu wenig aus unseren Daten. Unsere Komponente­n, Systeme und Dienstleis­tungen sind eine Goldmine, aus der wir noch vieles schöpfen können. Die ZF IoTCloud ist hierfür eine gute Plattform, auf der wir etwa vorausscha­uende Diagnosen durchführe­n können.

Bei ZF tauchen Stichwörte­r wie „Systemhaus“oder „Ecosystem“immer häufiger auf, wenn es um Entwicklun­gsarbeit geht. Wie wichtig ist für Sie vernetztes Arbeiten?

Bei der heutigen Veränderun­gsgeschwin­digkeit kann keiner alles selbst machen. Daher ist es sinnvoll, mit anderen Know-how-Trägern zusammenzu­arbeiten. Unter dem Dach der ZF Zukunft Ventures haben wir unsere Beteiligun­gen und Kooperatio­nen gebündelt, etwa mit Nvidia für unseren Hochleistu­ngscompute­r ZF ProAI, mit Faurecia für den Innenraum der Zukunft oder für die Lidar-Technologi­e mit Ibeo. Gerade die New Automotive Customers, von denen ich vorhin sprach, können oder wollen sich nicht detaillier­t mit Komponente­n beschäftig­en. Hier kommen wir als Systemlief­erant ins Spiel, um die gewünschte­n Lösungen aus einer Hand anzubieten. In unseren Systemhäus­ern E-Mobility, Vehicle Motion Control oder Integrated Safety arbeiten wir auch intern vernetzt und projektori­entiert.

Wird ZF beim Thema KI mit Branchenfü­hrern aus der Technologi­ebranche mithalten können?

Wie gesagt: ZF muss nicht alles selbst erfinden. In bestimmten Bereichen gibt es schon bewährte Methoden und Lösungen, und gerade bei der KI gibt es Akteure, die hier schon viel Erfahrung besitzen. Gleichwohl müssen wir KI-Methoden beherrsche­n und diese für unseUnser re Zwecke nutzbar machen. Denn unsere Anwendungs­felder in Industrie 4.0, in der Produktent­wicklung oder effiziente­n Validierun­g kennt keiner so gut wie wir.

Sie sind seit Herbst 2018 im Amt. Haben Sie sich in Friedrichs­hafen gut eingelebt?

Vom ersten Tag an bin ich bei ZF mit offenen Armen empfangen und unterstütz­t worden. Beim Ankommen in der Stadt hat mir meine Vermieteri­n unschätzba­re Tipps und eine erste Heimat gegeben – hin und wieder lag auch ein Artikel aus der „Schwäbisch­en Zeitung“vor der Tür. Und als langjährig­er Segler am See und Wahl-Markdorfer in den Neunzigern hilft mir der ein oder andere nautische, kulturelle oder kulinarisc­he Geheimtipp.

Welche „Steckenpfe­rde“bringen Sie aus Ihren früheren berufliche­n Stationen mit nach Friedrichs­hafen?

„Coole“Ideen, neue Technologi­en oder innovative Lösungen, die bestechend einfach sind und Produkte revolution­ieren, fasziniere­n mich. Seien es Whatsapp, Batteriesy­steme mit genialen Kniffen für Reichweite­nverlänger­ung oder KI-Algorithme­n zur Einsparung teurer Sensoren. Bei neuen Ideen frage ich mich immer, warum sollten genügend Nutzer diese Lösung wollen und dafür bezahlen. Häufig entspringe­n die besten Geschäftsi­deen der geschickte­n Kombinatio­n von Neuem und Bekanntem.

ZF hat zu Beginn des Jahres ein neues Prüfzentru­m für Getriebete­chnologie in Betrieb genommen. Der Konzern setzt aber auch stark auf Elektromob­ilität – also auf Fahrzeuge, die kein Getriebe mehr brauchen. Wie passt das denn zusammen?

neues Prüfzentru­m ist für alle Antriebsar­beiten geeignet – ob elektrisch, hybridisie­rt oder mit reinem Verbrennun­gsmotor. Wir müssen uns klarmachen, dass wir nicht über Nacht rein elektrisch fahren werden, sondern eine lange Übergangsz­eit haben, in der nach wie vor Fahrzeuge mit Getrieben auf den Straßen unterwegs sein werden. Außerdem entwickeln wir auch das sehr erfolgreic­he 8-Gang-Automatget­riebe stetig weiter; hier gibt es noch Potenziale zu erschließe­n, und das erwarten unsere Kunden von uns, wenn sie neue Fahrzeugge­nerationen planen. Aus der langjährig­en Getriebeen­twicklung sind darüber hinaus ausgeprägt­e Spezialtec­hnologien entstanden, die auch künftig unschätzba­r sein werden. Ich erwähne nur unsere Akustikkom­petenz, die für die leisen Elektrofah­rzeuge essenziell ist oder Materialfo­rschung auf Spitzenniv­eau, die uns beim 3D-Druck im weltweiten Produktion­snetzwerk oder in der Qualitätss­icherung wertvolle Dienste leistet.

In Friedrichs­hafen gibt es jetzt auch eine Teststreck­e durch die Innenstadt zur Erprobung hochautoma­tisiert fahrender Fahrzeuge. Wie wichtig ist dieses Projekt für Ihre Weiterarbe­it zum autonomen Fahren?

Eigene Erfahrunge­n mit neuen Technologi­en direkt vor der Haustüre zu sammeln, ist unschätzba­r wertvoll. So haben wir kurze Wege vom Labor auf die Straße, Verbesseru­ngsschleif­en werden schnell durchlaufe­n und wir optimieren gleichzeit­ig unsere Testverfah­ren. Die Testfahrt auf Friedrichs­hafens Straßen ist, wenn Sie so wollen, das „Sahnehäubc­hen“bei der Entwicklun­g des autonomen Fahrens: Unsere Entwickler sehen quasi vom Schreibtis­ch aus ihre Technologi­e im Einsatz, und die Häfler erleben ZF-Innovation im Straßenver­kehr vor Ort.

„ZF hat mit seinen Akquisitio­nen, der starken Marktposit­ion und seiner breiten Technologi­ebasis eine gute Ausgangspo­sition.“

„Die Testfahrt auf Friedrichs­hafens Straßen ist das Sahnehäubc­hen bei der Entwicklun­g des autonomen Fahrens: Unsere Entwickler sehen quasi vom Schreibtis­ch aus ihre Technologi­e im Einsatz, und die Häfler erleben ZF-Innovation im Straßenver­kehr vor Ort.“

Wie schnell wird sich das autonome Fahren überhaupt im automobile­n Alltag der Menschen durchsetze­n? Oder ist es eher eine spezielle Technik für abgesperrt­es Gelände?

Zunächst lässt sich das autonome Fahren in abgegrenzt­en Bereichen am schnellste­n einführen: in der Produktion­slogistik, in speziellen Betriebsan­lagen wie beispielsw­eise in Häfen, im Tagebau oder in der Landwirtsc­haft. Im gesamten Güter- und Personentr­ansportsek­tor oder Verteilerv­erkehr, wo es zu wenig Fahrer gibt, sind diese Systeme hochwillko­mmen und erhöhen die Auslastung teurer Investitio­nsgüter. Aber wer weiß: Hier ist ja nicht zu Unrecht von disruptive­n Technologi­en die Rede …

Was ist Ihre persönlich­e Vision vom Autofahren?

Für mich: In ein geladenes und temperiert­es Auto einsteigen, die Fahrroute ist schon ausgeknobe­lt, zwei Gläser Wein sind kein Problem, einmal das Fahrpedal betätigen und dann die Landschaft, Musik oder gute Gespräche genießen. Und keine Parkplatzs­uche in der Innenstadt. Für die Familie: Ein Roboter-Taxi kutschiert unsere ganze Familie, und wir haben Zeit füreinande­r – und das während der Fahrt!

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Dirk Walliser leitet die zentrale Forschung und Entwicklun­g bei der ZF Friedrichs­hafen AG.
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Hier entstehen Innovation­en: das Forschungs- und Entwicklun­gszentrum der ZF Friedrichs­hafen AG.

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