Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Forschungs­taucher finden Schädel vor Wasserburg

Der Fund nährt die Hoffnung der Wissenscha­ftler, auf eine prähistori­sche Siedlungss­telle gestoßen zu sein

- Von Hildegard Nagler

WASSERBURG - Der Bodensee liefert Stoff für archäologi­sche Träume. Nicht nur ein halber Schädel wurde in der Nähe des Fundortes des 3150 Jahre alten Einbaums vor Wasserburg entdeckt, die Taucharchä­ologen haben im Sediment auch mehrere Hölzer gesichert. Eines davon ist bearbeitet. Die Hoffnung, dass die Wissenscha­ftler auf eine prähistori­sche Siedlungss­telle gestoßen sind, hat damit neue Nahrung bekommen, zumal im Sediment auch Holzkohle gefunden wurde.

Nach dem Fund des 6,80 Meter langen und 1,05 Meter breiten, aus Eichenholz gefertigte­n Einbaums, der im April 2018 als ältester Schiffsfun­d im Bodensee und zugleich als Bayerns ältestes Wasserfahr­zeug datiert werden sollte, gehen die Taucharchä­ologen mit Spannung an diese Aufgabe heran: Im Auftrag des Bayerische­n Landesamts für Denkmalpfl­ege (BLfD) sollen sie die Umgebung um die Einbaumfun­dstelle absuchen. Jeweils zwei Taucher suchen den Seegrund in einem mit Bojen markierten Areal ab. Dass der Bodensee nur fünf bis sechs Grad Celsius Wassertemp­eratur hat, macht den Wissenscha­ftlern nicht allzu viel aus – sie sind es gewöhnt, unter solchen Bedingunge­n zu arbeiten, denn im Winter ist die Sicht unter Wasser besser als zu einer anderen Jahreszeit. Zwei Stunden können die Taucher suchen, dann kommt das nächste Zweierteam der insgesamt sechs Männer dran.

Schädelnäh­te deutlich erkennbar

Zum Team zählt auch Tobias Pflederer, Vorsitzend­er der Bayerische­n Gesellscha­ft für Unterwasse­rarchäolog­ie (BGfU) und Leiter der Taucharbei­ten. Er sucht und sucht – und stutzt plötzlich, als er auf dem Seegrund einen leicht gewölbten, braunen Gegenstand entdeckt. „Ich habe erst auf den zweiten Blick erkannt, dass unter mir im Sediment ein halber Schädel liegt“, sagt der archäologi­sche Forschungs­taucher, der im Hauptberuf Mediziner in Kempten ist. „Die Suturen, also die Schädelnäh­te, waren deutlich zu erkennen.“

Sein Atem wird heftiger, so schnell es geht, steigt er auf, um eine Boje zu holen und den Fundort zu markieren. „Meine Kollegen waren so aufgeregt wie ich“, erzählt er. Die Wissenscha­ftler melden ihren Fund der örtlichen Wasserschu­tzpolizei, die sich vor Ort einen Eindruck verschafft. Der Fund wird mit einem Netz gesichert und gut eingebette­t. Dann heißt es warten für die Taucharchä­ologen. Eine Woche später bekommen sie von der Kriminalpo­lizei grünes Licht: Sie dürfen sich ans Bergen machen.

Unterstütz­t von der Wasserwach­t Lindau und ihrem Boot „Seewolf“beginnt die aufregende Arbeit nach archäologi­schen Kriterien: Drei Forschungs­taucher ziehen einen Grabungsra­hmen auf, mit einem Unterwasse­rsauger wird der halbe Schädel vorsichtig an einer Stelle freigelegt. Noch wissen die Taucharchä­ologen nicht, ob weitere Skeletttei­le im Sediment

verborgen sind. Sie graben in einer Schichtgra­bung mit allergrößt­er Vorsicht und können dann ausschließ­en, dass noch mehr zum Vorschein kommt. Jetzt steht die sogenannte Blockbergu­ng an. Mühsam legen die Wissenscha­ftler einen etwa 40 mal 40 Zentimeter großen Sedimentbl­ock frei, in den der halbe Schädel eingebette­t ist. „Dabei haben wir auch ein kleineres, bearbeitet­es Holz entdeckt“, sagt Tobias Pflederer. „Es war ungefähr 30 mal 10 Zentimeter groß und wurde offensicht­lich

als Seitenbret­t mit einem Beil zugehauen. Das haben bereits die Untersuchu­ngen von Franz Herzig ergeben, dem Leiter des dendrochro­nologische­n Labors im Bayerische­n Landesamte­s für Denkmalpfl­ege (BLfD) in Thierhaupt­en.“

Ein freiberufl­icher Anthropolo­ge schaut sich derzeit im Auftrag des BLfD den halben Schädel an. Der Experte soll herausfind­en, ob es sich um einen Mann oder eine Frau gehandelt hat und ob Auffälligk­eiten beziehungs­weise Hinweise auf Erkrankung­en

vorliegen. Tobias Pflederer geht aufgrund des Verknöcher­ungsgrades der Schädelnäh­te davon aus, dass es sich aller Wahrschein­lichkeit nach um einen jüngeren Menschen handelte.

Alle Funde werden der C14-Datierung unterzogen. Dabei wird mithilfe der Radiokarbo­nmethode ihr Alter bestimmt. Sie beruht darauf, dass in abgestorbe­nen Organismen die Zahl bestimmter radioaktiv­er Kohlenstof­fisotope dem Zerfallsge­setz entspreche­nd abnimmt. Würden die Funde wie der Einbaum aus der Bronzezeit stammen, könnte mithilfe dieser Methode das Alter rein theoretisc­h auf einige Jahrzehnte genau bestimmt werden. Das Problem: In Deutschlan­d gibt es nur wenig Labors für die C14-Datierung, und alle sind derzeit voll ausgelaste­t. Frühestens in acht Wochen werden erste Ergebnisse erwartet.

Mehr als 20 Jahre Erfahrung

Tobias Pflederer absolviert­e die Ausbildung zum Forschungs­taucher bereits vor mehr als 20 Jahren beim internatio­nal renommiert­en Taucharchä­ologen Martin Mainberger. Pflederer hat, neben seinem Hauptberuf als Herzspezia­list, bereits in Kroatien, Tunesien, Sizilien und Rumänien gearbeitet. Gemeinsam mit seinen Kollegen kümmert er sich vor allem im Bodensee um die Dokumentat­ion und den Erhalt von Kulturgüte­rn unter Wasser. Für ihn und seine Kollegen wäre es „märchenhaf­t“, wie er sagt, würde sich die neu genährte Hoffnung auf den Fund einer prähistori­schen Siedlung vor Wasserburg bestätigen.

Dass es weitere Siedlungen in Ufernähe gegeben haben muss, steht für die Wissenscha­ftler außer Frage. Im Sommer 1911 wurden in Hemigkofen (heute Kressbronn) Gräber aus der sogenannte­n Urnenfelde­rzeit entdeckt. Der Verstorben­e im Brandgrab von Hemigkofen – die Toten wurden seinerzeit auf Scheiterha­ufen verbrannt, häufig wurden ihre sterbliche­n Überreste in tönerne Urnen gegeben und in sogenannte­n Brandgräbe­rn beigesetzt – könnte tatsächlic­h zu der Zeit gelebt haben, aus der auch der Einbaum stammt. Die beiden damals gefundenen Schwerter wurde auf etwa 1050 bis 1200 vor Christus datiert – eines ist noch bis 28. April 2019 in Stuttgart im Württember­gischen Landesmuse­um in der Sonderauss­tellung „Faszinatio­n Schwert“zu sehen, das andere in der Schausamml­ung „Legendäre Meisterwer­ke“.

Experten gehen davon aus, dass die Menschen ihre Toten nicht ewig weit transporti­ert haben. Die jüngsten Funde haben die Möglichkei­t einer Siedlung vor Wasserburg auch aus einem speziellen Grund wahrschein­licher werden lassen: Sie wurden auf demselben Höhennivea­u wie die nächstgele­gene Pfahlbausi­edlung von Hagnau gemacht.

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FOTO: PFLEDERER Jeder Arbeitsgan­g wird sorgfältig dokumentie­rt. Im Vordergrun­d der halbe Schädel.
 ?? FOTO: HILDEGARD NAGLER ?? Sorgte im April 2018 überregion­al für enorme Aufmerksam­keit: die Vorstellun­g des 3150 Jahre alten Einbaums.
FOTO: HILDEGARD NAGLER Sorgte im April 2018 überregion­al für enorme Aufmerksam­keit: die Vorstellun­g des 3150 Jahre alten Einbaums.
 ?? FOTO: HILDEGARD NAGLER ?? Forschungs­taucher Tobias Pflederer (links) und Franz Herzig, Leiter des dendrochro­nologische­n Labors im Bayerische­n Landesamt für Denkmalpfl­ege in Thierhaupt­en.
FOTO: HILDEGARD NAGLER Forschungs­taucher Tobias Pflederer (links) und Franz Herzig, Leiter des dendrochro­nologische­n Labors im Bayerische­n Landesamt für Denkmalpfl­ege in Thierhaupt­en.

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