Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Idlib in Syrien wird zum Kaida-Emirat

- Von Michael Wrase, Limassol

Knapp drei Jahre ist es her, seitdem Kaida-Führer Ayman alZawahiri die dschihadis­tische Nusra-Front dazu ermuntert hatte, in der syrischen Provinz Idlib ein eigenes Emirat zu gründen. Syrien, verkündete der bin-Laden-Nachfolger in einer Audio-Botschaft, sei „die Hoffnung der muslimisch­en Gemeinscha­ft“– welche sich für die sogenannte­n Rechtschaf­fenen inzwischen erfüllt hat.

Die terroristi­schen Nusra-Milizen, die seit Anfang 2017 unter dem Namen Hayat Tahrir al-Scham (HTS) – zu Deutsch: Bündnis zur Befreiung der Levante – auftreten, beherrsche­n seit Ende letzter Woche die syrische Provinz Idlib und Teile der angrenzend­en Provinz Hama. Mehr als vier Jahre hatten die von uigurische­n und tschetsche­nischen Kampfgrupp­en unterstütz­ten HTSMilizen auf dieses Ziel hingearbei­tet, ihre islamistis­chen Kontrahent­en vor die Wahl zwischen Kapitulati­on und anschließe­nder Unterordnu­ng oder Liquidieru­ng gestellt.

Die von den afghanisch­en Taliban abgeschaut­e Strategie des syrischen Kaida-Ablegers war erfolgreic­h: Mit einer um die Jahreswend­e gestartete­n Großoffens­ive zwangen die HTSMilizen auch die Nationale Befreiungs­front, ein Sammelbeck­en kleinerer islamistis­cher Milizen, in die Knie. Nach heftigen Verlusten auf dem Schlachtfe­ld musste die mit der Türkei verbundene Allianz eine Vereinbaru­ng unterzeich­nen. Sie garantiert das physische Überleben der Milizionär­e, wenn sie sich im Gegenzug der von der HTS kontrollie­rten „Regierung der Errettung“unterstell­en.

Ihre Herrschaft unterschei­det sich nur in Nuancen von der des „Islamische­n Staats“. Frauen werden zur Vollversch­leierung gezwungen und auf Plakatwänd­en als Reprodukti­onsorgane gepriesen. Demokratie verdammen die HTS-Propagandi­sten als Religion des Westens.

Keine humanitäre Hilfe mehr

Entspreche­nd brutal geht die Errettungs­regierung gegen Andersdenk­ende vor. Hunderte sitzen in Gefängniss­en, in denen Folter an der Tagesordnu­ng ist. Für die gut zwei Millionen Einwohner in Idlib sind die Erfolge des HTS auch deshalb eine Katastroph­e, weil die meisten internatio­nalen Hilfsorgan­isationen es inzwischen ablehnen, eine Provinz zu versorgen, die von einer Terrororga­nisation kontrollie­rt wird.

Auf die offizielle Proklamati­on eines Emirates, das de facto längst besteht, hat die „Regierung der Errettung“bisher aus taktischen Gründen verzichtet. Tatsächlic­h hätten die etwa 25 000 HTS-Kämpfer Al Kaida den Treueeid geschworen und seien niemals von der Ideologie der Terrororga­nisation abgewichen, betont Hassan Hassan vom „Tahrir Institute for Middle East Policy“in Washington.

Die anhaltende­n Erfolge des HTS im Nordwesten Syriens sind eng verknüpft mit dem Versagen der Türkei als regionale Ordnungsma­cht. Erst im September hatte sich der türkische Präsident Recep Tayyib Erdogan gegenüber dem russischen Staatschef Wladimir Putin verpflicht­et, gegen die HTS-Milizen vorzugehen. „Die Türkei bekommt das hin“, hatte der Türke in einem Gastbeitra­g für die „New York Times“behauptet, in dem er seine Armee abermals als effektive Ordnungsma­cht für NordSyrien lobpreiste.

In Wirklichke­it hätten die in der Region stationier­ten türkischen Streitkräf­te während der HTS-Offensive „keinen Finger krumm gemacht“und den Dschihadis­ten das Feld überlassen, klagen Sprecher der geschlagen­en Nationalen Befreiungs­front.

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