Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Die Bilder schmerzen
„Capernaum“ist ein beeindruckender Film über das Leben eines syrischen Flüchtlingsjungen im Armenviertel von Beirut
Ein Spielfilm, der wie ein Dokumentarfilm wirkt: „Capernaum“von Nadine Labaki spielt dort, wo die Medien normalerweise nicht hinkommen. Die libanesische Regisseurin hat in den Slums von Beirut recherchiert und mit Laien gedreht. Sie erzählt vom Leben der Elenden am Beispiel eines kleinen Jungen. Er heißt Zain und ist vielleicht zwölf Jahre alt.
Zain erscheint vor Gericht in Begleitung seiner Anwältin. Die Presse ist auch da, der Prozess ist spektakulär: Der Junge hat seine Eltern verklagt, weil sie ihn in eine Welt ohne Hoffnung geboren haben. Der Prozess bildet in dem Film „Capernaum“eine dramaturgische Klammer, in der in einer großen Rückblende erzählt wird, wie es zu diesem Prozess gekommen ist.
„Stadt der Hoffnung“heißt der Film im deutschen Untertitel. Er ist unzutreffend. Die Handlung spielt in Beirut, früher einmal „Paris des Ostens“genannt. Heute, nach langen Jahren des Krieges und von Flüchtlingswellen – Syrien liegt nahe – gibt es zwar auch den Luxus, die Hotels und die Strandpromenade, aber auch riesige Slums, in denen Menschen ohne jede Hoffnung leben. Menschen wie Zain, syrisches Flüchtlingskind, das nicht weiß, wie alt er ist und mit seinen arbeitslosen Eltern in einer kargen Hütte lebt. Als seine Schwester ihre erste Regelblutung bekommt und gleich an einen Ehemann verkauft werden soll, verlässt er die Familie und schlägt sich allein durch. Er trifft Rahil aus Eritrea, die mit ihrem Baby illegal in Beirut lebt. Als sie verhaftet wird, kümmert sich Zain rührend um das Kleinkind. Doch das Duo treibt unaufhaltsam auf eine Katastrophe zu.
Regisseurin und Co-Autorin des Films ist die Libanesin Nadine Labaki, Jahrgang 1974, die die Geschichte um Zain mit hohem Zeitaufwand in Beirut gedreht hat – nach langen Vorbereitungen im Casting unter Laiendarstellern dauerten die Dreharbeiten ein halbes Jahr. Am Ende standen 500 Stunden gedrehter Szenen, die dann in einem mühsamen Prozess auf zwei Stunden geschnitten wurden. Der Film hatte seine Premiere in Cannes, wo er den Jury-Preis und den der ökumenischen Jury erhielt; Das Publikum ehrte ihn mit einer viertelstündigen Standing Ovation. Mittlerweile hat er weitere Auszeichnungen auf Festivals bekommen, unter anderem bei den Golden Globes, und geht demnächst ins Rennen um den Fremdsprachen-Oscar.
Der Staub des Authentischen
„Capernaum“ist ein Film, der dahin geht, wo es wirklich wehtut. Seine Bilder aus dem Slum schmerzen; es scheint dem westlichen Betrachter unmöglich, dass Menschen unter diesen Umständen leben können. Es greift ans Herz, wenn Kinder nie spielen, nie eine Schule gesehen haben, sondern arbeiten müssen, um ihre vollkommen unfähigen und mitleidlosen Eltern durchzubringen; einige Passagen sind so bedrückend, dass in einigen Kritiken in englischsprachigen Ländern sogar der Vorwurf des „Elendspornos“aufkam; verbunden mit dem Vorwurf, dieses Elend zu ästhetisieren.
Dabei atmen die zwei Stunden den stickigen Staub des Authentischen. Das mag aber auch daran liegen, dass der Film wohl zwangsweise so viele Aspekte jenes Begriffs Elend aufgreift, dass es den Betrachter überwältigen kann: Armut, dysfunktionale Familien, Ausbeutung, Migration, Kindesmissbrauch, Gewalt – und alles hängt miteinander zusammen. Manchmal erscheinen im Hintergrund Bilder eines Vergnügungsparks, einer vielbefahrenen Straße – wie Blicke aus der Hölle ins nahe und doch so ferne Paradies.
Die Authentizität bringen vor allem die Darsteller mit, die teilweise ihre eigene Biografie in ihre Rollen einflechten. Der kleine Zain heißt wirklich so, lebte, als er entdeckt wurde, schon seit Jahren als Geflüchteter aus Syrien in Beirut; die Eritreerin Yordanos Shifera hatte zeitweise wie ihre Filmfigur Rahil keine Papiere. Immerhin hat Zain die Chance genutzt, seiner Situation zu entkommen; er lebt mittlerweile in Norwegen, geht in die Schule und „holt“, so Nadine Labaki in einem Interview, „seine Kindheit nach“. Ein Verdienst von „Capernaum“ist, hinter abstrakten, vielfach missbrauchten und abgegriffenen Begriffen wie „Migrant“oder „Flüchtlingskrise“die Menschen zu sehen.