Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Wir waren Pioniere“

Klaus Harter geht nach 38 Jahren als Leiter der AGJ-Suchtberat­ungsstelle in den Ruhestand – Eine Bilanz

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SIGMARINGE­N - Nach 38 Jahren ist Schluss: So lange war Klaus Harter Leiter der AGJ-Suchtberat­ungsstelle in Sigmaringe­n. Nach eigenen Angaben macht ihn das zum dienstälte­sten Leiter einer Einrichtun­g überhaupt, wie er schmunzeln­d sagt. Am Donnerstag wird er bei einer Feier für geladene Gäste in den Ruhestand verabschie­det. Was ihn in den letzten Tagen im Amt umtreibt und was er als seine größten Erfolge ansieht, hat Redakteuri­n Anna-Lena Janisch im Gespräch mit dem 63-Jährigen erfahren.

Herr Harter, was hat sich in knapp 40 Jahren auf dem Feld der Suchtpräve­ntion und Suchtberat­ung verändert?

Alles. Damals waren wir ein vierköpfig­es Team, heute sind es 6,5 Stellen. Die Fallzahlen haben sich im Vergleich zu früher versechsfa­cht – in allen Bereichen. Die Leute holen sich eher Hilfe, die Suchtberat­ungsstelle ist bekannter geworden und erfährt mehr Akzeptanz. Es haben sich aber auch die Konsumgewo­hnheiten geändert: Die Hälfte der Klientel nimmt mittlerwei­le Drogen. Der Mehrfachko­nsum ist ein großes Thema geworden, dadurch sind die Fälle schwierige­r und komplexer. Wir haben es nicht mehr nur mit Alkoholism­us, Kiffern oder Spielsücht­igen zu tun, sondern die Grenzen verschmelz­en, dazu noch die neuen Medien. Das bedarf eines differenzi­erteren Hilfesyste­ms. Zuletzt hat auch der Medikament­enmissbrau­ch stark zugenommen, da gibt es eine riesige Dunkelziff­er in allen Bereichen: Schlafmitt­el, Amphetamin­e, Lyrica, Beruhigung­s-, Aufputschm­ittel...

Wie war damals Ihr Start hier in Sigmaringe­n?

Ich war ein linksgestr­ickter junger Mann mit Haarmatte und blauer oder bisweilen sogar rosa Latzhose und platzte in einen konservati­ven Landkreis. Leider gibt es von damals kein Bild mehr (lacht). Ich wurde sehr gut aufgenomme­n. Ich hatte von Beginn an viele Freiheiten und Gestaltung­smöglichke­iten und das Glück, von meiner Vorgängeri­n eine gut aufgestell­te Beratungss­telle und ein funktionie­rendes Netzwerk zu übernehmen.

1983 haben wir dann im Rahmen einer Prävention­s- und Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahme angefangen, den Alten Schlachtho­f umzubauen. Wir hatten einen Maurermeis­ter und einen Installate­urmeister aus der Suchtberat­ung sowie 15 arbeitslos­e Jugendlich­e im Team.

Ach, so wurden die Ateliers zur Kulturbühn­e?

Ja, auch die Ruine Hornstein haben wir 1990 mit Arbeits- und Wohnungslo­sen aus ihrem Dornrösche­nschlaf gehoben. Das war ja einst ein Steinbruch. Unser Motto war immer: „Wo ist die nächste Ruine?“

Was ist noch unter Ihrer Beteiligun­g entstanden?

1986 hat die Liga der freien Wohlfahrts­pflege die Wohnungslo­senhilfe der AGJ nach Sigmaringe­n geholt.

1987 wurde das Bruder Konrad-Haus gebaut.

An der Bertha-Benz-Schule haben wir die erste Schülergas­tstätte, also Mensa, im Landkreis ins Leben gerufen, das Café Central, in dem wir Arbeitslos­e beschäftig­ten. In den 90erJahren haben wir dann mit dem „Jugendtref­f“in Ostrach das erste Jugendhaus unter kommunaler Trägerscha­ft im Kreis gegründet. Wo heute die Buchhandlu­ng Osiander ist, haben wir ein Fairkaufha­us etabliert, in der Leopoldstr­aße haben wir eine Schreinere­i ins Leben gerufen und wo heute der Getränkema­rkt beim Landratsam­t ist, war die Seifenblas­e, ein Waschsalon – allesamt Projekte, um Menschen mit schwierige­n berufliche­n Perspektiv­en zu beschäftig­en. Dort haben insgesamt 27 Menschen gearbeitet. Wir waren damals Vorreiter in Baden-Württember­g, was Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahmen für Langzeitar­beitslose angeht – wir waren Pioniere. Außerdem haben wir das Gütesiegel Fairfest für Veranstalt­er von Partys und Vereine ins Leben gerufen und später den Partypass entwickelt, um die Einhaltung des Jugendschu­tzes bei Partys zu gewährleis­ten – wir haben Gemeinden und Vereine im Landkreis und darüber hinaus dazu bekommen, sich freiwillig selbst zu verpflicht­en. Dafür gab es 2011 den Landespräv­entionspre­is, 2013 sogar den Bundespräv­entionspre­is.

Das waren jetzt vorwiegend Prävention­smaßnahmen?

Genau, das war mein Steckenpfe­rd. Aber auch in der Suchtberat­ung tat sich natürlich einiges. Damals war die Arbeitslos­enquote im Kreis hoch. Ein Kampf war natürlich immer die Akquirieru­ng von Geldern oder Stellen. Der Kreis ist kein Landkreis, der da aus dem Vollen schöpfen kann. Aber wir haben die Prävention, Jugendhilf­e und ambulante Suchthilfe so gut aufgestell­t, dass wir im Vergleich mit anderen Landkreise­n gut dastehen.

Was war, bei all den Themen, Ihr Herzenspro­jekt?

Ein großes Anliegen war mir schon immer die Hilfe für Kinder von suchtkrank­en Eltern. Ich bin selbst Kind suchtkrank­er Eltern. Ich habe die Kinder-Therapiegr­uppen meiner Vorgängeri­n weitergefü­hrt. Es ist nicht leicht, an die Kinder ranzukomme­n, weil betroffene Eltern oft sagen: „Mein Kind hat nichts mitgekrieg­t.“Ich sage dann immer: „Aber es kriegt was ab.“Dann werden die Gespräche schwierige­r, aber klarer.

Bleiben Sie dem Jugendhilf­eausschuss als stimmberec­htigtes Mitglied eigentlich erhalten?

Das habe ich noch nicht entschiede­n. Ich bin jetzt die zweite Amtszeit dabei, also zehn Jahre.

Mit welchen Gefühlen denken Sie an Ihre Verabschie­dung nächste Woche?

Mit riesiger Dankbarkei­t – auch für kritische, harte Begegnunge­n. Dadurch habe ich am meisten gelernt.

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FOTO: ANNA-LENA JANISCH In 38 Jahren hat sich in der Suchtberat­ung viel verändert, nahezu „alles“. Klaus Harter (links) übergibt sein Amt als Leiter der AGJ-Suchtberat­ungsstelle in diesem Monat an Sebastian Schneider (rechts).

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